«Alle Menschen sind auf Hoffnung und Perspektiven angewiesen»

Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Sandra Rumpel und der Grünen-Gemeinderat Luca Maggi sind Teil des Netzwerks «MNA im Kanton Zürich» (Mineurs non accompagnés), das eine  bessere Unterbringung von unbegleiteten geflüchteten Minderjährigen im Kanton Zürich fordert. Im Interview mit Steffen Kolberg sprechen sie über politische Herausforderungen, die bisherigen Missstände und die besonderen Bedürfnisse geflüchteter Minderjähriger.

Im Sommer 2022 wurden gravierende Missstände im MNA-Zentrum Lilienberg bekannt. Nun, ein Jahr später, gelangten abermals Berichte über eine nicht fachgerechte Unterbringung von MNA (Mineurs non accompagnés) in der ehemaligen Polizeikaserne Zürich an die Öffentlichkeit. Wie kann es sein, dass aus den Vorfällen in der Vergangenheit offenbar nichts gelernt wurde? 

Luca Maggi: Das ist in der Tat ernüchternd. Der Kanton hat gerade in Bezug auf die Räumlichkeiten die Empfehlungen des eigenen Berichts von letztem Herbst ignoriert. In der Kaserne gibt es bis zu 20er-Zimmer, in denen traumatisierte Jugendliche unterbracht sind. Das geht nicht. Eine Unterscheidung ist jedoch wichtig: Der Lilienberg ist eine reine MNA-Unterkunft, in der Kaserne sind sowohl Erwachsene als auch Minderjährige untergebracht. Allein dieser Zustand ist unhaltbar und verstösst gegen die Rechtssprechung in Bezug auf die Kinderrechtskonvention, die besagt, dass MNA getrennt untergebracht werden müssen. Dass der Kanton auf dem Stockwerk, auf dem die MNA untergebracht sind, gemäss Baueingabe nur 2,6 Quadratmeter pro Person vorgesehen hat, kommt noch hinzu.

Der Kanton sprach zuletzt von 9,1 Quadratmetern pro Kind in der Polizeikaserne.

Sandra Rumpel: Bei der Quadratmeterzahl in der ehemaligen Polizeikaserne werden immer wieder andere Zahlen genannt. Wenn man die Gemeinschaftsräume mitrechnet, kommt man auf mehr als 2,6 Quadratmeter. Aber das ist ja kein privater Raum.

Zürich hat ein generelles Problem mit zu wenig Wohnraum. Wie sollte man denn damit umgehen, dass es kurz- bis mittelfristig einfach nicht genügend Platz geben wird? 

L. M.: In den Jahren 2016 und 2017 gab es ähnliche Krisen, die Zahl an unbegleiteten Jugendlichen war ähnlich hoch. Jetzt haben wir einen zweiten Peak, die Geschichte wiederholt sich, aber in der Zwischenzeit sind verschiedene Unterkünfte geschlossen worden, zum Beispiel in Leimbach. Die Wohnsiedlung am Aubruggweg ist nur noch offen, weil der Gemeinderat zugunsten des Standorts interveniert und diesen finanziert hat. Dass man jetzt nicht von heute auf morgen mehr Plätze schaffen kann, ist natürlich verständlich. Dass man aus der Vergangenheit keine Learnings gezogen hat, ist fahrlässig.

1997 hat die Schweiz die UNO-Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Das Netzwerk «MNA im Kanton Zürich» prangert an, dass der Kanton mit der bisherigen Unterbringung von MNA gegen diese Konvention verstosse. Gegen was konkret?

L. M.: Die Kinderrechtskonvention gibt vor, dass das Kindeswohl immer als vorrangiger Gesichtspunkt berücksichtigt werden muss. Dies wird im MNA-Bereich missachtet, wie die zahlreichen Missstände zeigen. Die Kinder- und Jugendwohnheimgesetzgebung gibt vor, was für Kinder ohne Eltern gilt. Doch sie gilt bislang nicht für MNA.

S. R.: Ein Kind hat das uneingeschränkte Recht auf Bildung und auf Zugang zu guter gesundheitlicher Versorgung, auf Ruhe, Teilhabe und individuelle Förderung. MNA werden oft so behandelt, dass mit 16 Jahren die obligatorische Schulzeit vorbei ist, danach wird eine weitere Beschulung häufig verweigert. Von Gesetzes wegen müssen aber neun Schuljahre absolviert werden, das Alter ist dabei unerheblich. Es gibt momentan einen Zwei-Klassen-Kinderschutz, und das ist eine klare Diskriminierung. Kinder haben ein Recht auf Schutz vor Ausbeutung, vor Gewalt und sexueller Misshandlung. MNA sind massiv gefährdet und werden zu wenig geschützt. Auch in Zürich wird Menschenhandel betrieben – so stark wie schon lange nicht mehr. Dem müssen wir etwas entgegensetzen, unter anderem mit guter Betreuung. Da eignet sich die ehemalige Kaserne nicht: Sie ist an einem sensiblen Ort, nahe beim Drogen- und Rotlichtmilieu. Es gibt auch Kinder, die bei uns behandelt wurden und inzwischen verschwunden sind, sehr wahrscheinlich nach Deutschland in die Prostitution verkauft.

Ist der Kanton Zürich mit dieser Handhabung in der Schweiz allein?

L. M.: Grundsätzlich ist es auch in anderen Kantonen so, dass der Kanton Aufträge zur Betreuung vergibt. Ein Positivbeispiel ist der Kanton Appenzell Ausserrhoden, der mit dem Verein Tipiti die Unterbringung und Betreuung organisiert. Dort dauert die Betreuung über das 18. Lebensjahr hinaus.

S. R.: Eine Betreuung bis 25 Jahre sieht auch das Kinder- und Jugendheimgesetz vor, auch Jugendliche ohne Fluchterfahrung brauchen nach 18 noch betreute Strukturen in stabilen Beziehungen und Unterstützung. Man muss sich zurechtfinden, wie das beispielsweise mit der Wohnungssuche oder der Ausbildung funktioniert.

Welche spezifischen Bedürfnisse haben Jugendliche mit Fluchterfahrung gegenüber solchen ohne? 

S. R.: Drei Viertel aller MNA bringen schwerste Traumata mit, sie haben ausserdem kein soziokulturelles Netz, das sie auffängt. Dafür haben sie ein anderes kulturelles Know-how, sind oft sehr viel selbstständiger als Kinder in Betreuungssituationen, die hier aufgewachsen sind. MNA sind viel weniger delinquent oder suchtkrank als Kinder ohne Fluchthintergrund aus der Jugendhilfe. Darum dürfen sie auch nicht zusammen mit solchen mit deviantem Verhalten untergebracht werden. Sie brauchen zunächst einmal eine spezifische Betreuung. Auf der einen Seite gibt es diese hohe Selbstständigkeit und das Verantwortungsbewusstsein, weshalb es nicht viel bringt, ihre Freiheit stark einzuschränken. Auf der anderen Seite benötigen sie Vertrauen, Geborgenheit und Schutz, da sie oft den falschen Leuten vertrauen. Es ist wichtig, mit ihnen in Beziehung zu stehen, immer wieder nach ihrem Befinden zu fragen, echtes Interesse zu zeigen und so auch zu merken, wenn sie gefährdet sind.

Kürzlich wurden im Gemeinderat neue Kriterien für die Leistungsvereinbarung der Asylorganisation Zürich (AOZ) diskutiert. Unter anderem wurden die Bedingungen noch einmal nachgeschärft, unter denen die AOZ Vereinbarungen als Leistungserbringerin eingehen darf. Wird nun also alles besser bei der MNA-Unterbringung?

L. M.: Dass nun fachliche Kriterien in Bezug auf Betreuungsschlüssel und Räume gelten sollen, ist erfreulich. Wir haben im Gemeinderat versucht, noch mehr Verbindlichkeit zu schaffen, zum Beispiel was die Behebung von Abweichungen dieser Vorgaben in Krisen anbelangt. Zudem muss eine Kultur der Transparenz gegenüber den Mitarbeitenden und dem Gemeinderat geschaffen werden. Dass sich Mitarbeitende gezwungen fühlen an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie weder intern noch vom Stadtrat ernst genommen werden, darf nicht mehr passieren. Die Behauptung von Raphael Golta, dass sich die Situation auch ohne die Veröffentlichung der Missstände verbessert haben würde, ist eine Farce. Der neue Verwaltungsrat der AOZ strahlt jedoch Offenheit aus und ist am Austausch mit den Fachpersonen interessiert. Die Stadt kann aber nicht allein für bessere Verhältnisse sorgen, es braucht den Kanton und den Bund. Und der hat mit den beschleunigten Asylverfahren und den Bundesasylzentren (BAZ) etwas Verheerendes geschaffen. Dazu kam im letzten Herbst noch die neue Kategorisierung als «selbstständige unbegleitete minderjährige Asylsuchende» (SUMA). 

Mit dieser hat der Bund bestimmt, dass Jugendliche über 16 Jahre, die als «nicht besonders vulnerabel» erscheinen, direkt in Erwachsenenstrukturen untergebracht werden sollen.

S.R.: Viele der MNA kommen aus Kulturen, in denen es unhöflich ist, zuzugeben, dass es einem schlecht geht. Sie öffnen sich auch nicht jedem Menschen, bauen stattdessen eine Fassade auf zum Schutz, um stark zu bleiben. Und genau diejenigen werden nun wahrscheinlich als SUMA eingestuft. Dadurch überfordert man die Jugendlichen besonders. Man macht aus fachlicher Sicht einen massiven Fehler, wenn man die scheinbar Starken nicht beachtet.

Eine Kernforderung Ihrerseits ist die Beziehungsstabilität zwischen Betreuer:innen und Betreuten. Welche Auswirkungen hat es, wenn eine solche Stabilität nicht gewährleistet ist?

S. R.: Diese Kinder haben schon ganz viel gelernt über Gewalt und Macht – sowohl in ihren Herkunftsländern als auch auf ihrer Flucht. Aber alle haben auch Hoffnung, dass es etwas Gutes in der Welt gibt, und es ist wichtig, dass Beziehungen wieder als gut erfahren werden. Das heisst nicht, dass alles immer gut sein muss, aber was sie brauchen, sind Vertrauenspersonen über das 18. Lebensjahr hinaus. Je fragmentierter die Betreuungen sind, desto weniger Vertrauen entwickeln sie in diese Gesellschaft, in die Schweiz. Ohne stabile Beziehungen können sie weder ihre Ressourcen einbringen noch ihre Traumata verarbeiten. Alle Menschen sind auf Hoffnung und Perspektiven angewiesen. Es ist ein Irrwitz, nicht in sie zu investieren.

Was passiert, wenn der Kanton künftig den Leistungsauftrag nicht mehr an die AOZ vergibt? War dann der ganze Aufwand, der nun auf Stadtebene betrieben wurde, umsonst? 

L. M.: Die ganze Situation, dass der Kanton Aufträge öffentlich ausschreibt, ist absurd. Bei Kinder- und Jugendheimen wird dies nicht gemacht. Im Kanton Zürich gibt es bisher nur AOZ und ORS als Organisationen, die das machen können. Das suggeriert einen Wettbewerb, der de facto gar nicht existiert. Dabei müssten fachliche Kriterien den Ausschlag geben. 2019 hat die AOZ ein Dumpingangebot abgegeben, aus Angst, dass die ORS den Zuschlag bekommt. Dabei hatte sich die ORS am Ende gar nicht beworben.

Die bereits erwähnte international tätige Sicherheitsfirma ORS Group ist aktuell für das Asylzentrum in der Polizeikaserne zuständig und könnte sich in diesem Jahr für die MNA-Betreuung bewerben. Was würde diese Vergabe bedeuten?

L. M.: Bei der AOZ hat man öffentlichen Zugang und kann Diskussion führen, die ORS ist eine private, gewinnorientierte Organisation. Das birgt die Gefahr für weitere Dumpingangebote mit schlechten Betreuungsverhältnissen, wie man in der Kaserne sieht. Daran ändert auch eine knapp und schludrig beantwortete Interpellation des Regierungsrates nichts. Die Neuausschreibung wäre die Chance, mit den Fehlern der Vergangenheit aufzuräumen. Wir werden genau hinschauen. Ansonsten muss man sich überlegen, gegen den Kanton wegen Verletzung der Kinderrechtskonvention zu klagen. Entscheidend für die Neuvergabe wären eine Dezentralisierung, kleinere Unterbringungsformen und ein Betreuungsschlüssel, welcher der hiesigen Kinder- und Jugendheimgesetzgebung entspricht. Dies sind die zentralen Forderungen unseres Netzwerks.

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