«Aids – Keine Frage der Moral»

Aus einer Schweizer Perspektive ist Zürich gross, was sich vor allem auch an der Vielfalt an den gesellschaftlichen Rändern zeigt. Richtet man den Fokus auf HIV/Aids über die letzten 35 Jahre, muss darum die Stadt im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen.

 

Der Zeitpunkt ist ideal gewählt. Nach der internationalen und medial gut beachteten Auseinandersetzung mit HIV/Aids im Migros Museum (P.S. vom 6.9.19) war das Bedürfnis nach einer lokalen Perspektive gross. Die von Rayelle Niemann kuratierte (Recherche: Gerhard Hintermann) Übersichtenschau «Problem gelöst? Geschichte(n) eines Virus» verwendet zwar das Fragezeichen rein rhetorisch, erfüllt dafür ihre Funktion als Mahnmal und Erinnerung. Für den gesamten Zeitraum zwischen den beiden Schlagzeilen von lokalen Zeitungen «Aids trifft nicht nur Homosexuelle» (1983/TA) und «Das ‹chemische Kondom› soll für alle erschwinglich sein» (2019/NZZ), fächert die Ausstellung die Vielzahl der lokalen Eigeninitiativen und diversen Problemstellungen mit Exponaten auf.

 

Drogen und -prostitution

 

Der Auftakt macht eine Statistiken und ein Glossar verdeutlichende Tafel, auf deren Rückseite eine künstlerisch freier interpretierte Erinnerungsauffrischung der einschlägigen Daten und Namen von Monika Germann und Daniel Lorenzi hängt. Gegenüber finden sich auf Plakaten, die an Wandzeitungen gemahnen, Artikel, Fotos und Protokolle über die damals gegründeten Gruppen: Der «Lila Bus» als erste Anlaufstelle für drogenkonsumierende Frauen und Sexarbeiterinnen im Zürcher Seefeld, das «Atelier Purpur» als erstes Fixerstübli ebenda, das Projekt «Herrmann» und Aufklärungs- und Werbematerial weiterer Initiativen. Der Zürcher Stadtrat musste noch 1990 zehn drogenpolitische Grundsätze verfassen, die von heute aus betrachtet eine ausserordentlich vernunftbasierte Position einnahm. Emilie Lieberherr sei Dank. In Punkt drei des Beschlusses steht: «Der Stadtrat geht davon aus, (…) dass Schuldzuweisungen keine konstruktiven Veränderungen bei den Betroffenen bewirken.» Daneben Fotografien von Demonstrationen, auf deren Banner gross der Slogan prangt: «Aids – Keine Frage der Moral». Nicht unterschlagen wird hier auch der sagenumwobene Entscheid des Zürcher Kantonsarztes Gonzague Kistler, der 1985 ein Spritzenabgabeverbot verhängte und damit Ärzte- wie Apothekerschaft in die Bredouille und alle Drogenkonsumierenden unnötig in Gefahr brachte. Es dauerte Monate, bis der Regierungsrat dieses Verbot kassierte.

 

Schwule Männer

 

Es standen sich Panik und Panik gegenüber. Die Moralpolizei in einer unfassbaren Vielfalt und die von einer ominösen Schwulenpest Betroffenen, die mitansehen mussten, wie ihre Nächsten dahingerafft wurden, und niemand wusste, was diese Immunschwächekrankheit verursachen könnte. Es waren die schwulen Männer, die den Anstoss gaben für die Gründung der Zürcher Aidshilfe und des Sterbehospiz Lighthouse und die eine Aufklärung initiierten, die ihresgleichen sucht. René Ratti, der im Fernsehen gesteht: «Ich bin schwul und ich habe Aids» oder Charles Clerc, der als Tagesschausprecher der ganzen Nation erklärt, wie ein Kondom korrekt überstülpt wird, sind Meilensteine der Geschichte. Die gesellschaftliche Moral aber war noch immer stark rückwärtsgewandt, und als die «Loge 70», ein Treff für Lederkerle und Motorbiker, eine einschlägige Broschüre veröffentlichte, wurde die auf Druck der Obrigkeit wegen Anstössigkeit und Pornographieverdacht höchstinstanzlich eingestampft.

 

Problemfeld wächst

 

Seit 1984 das HI-Virus erstmals isoliert wurde und drei Jahre später mit AZT ein erstes Medikament (mit horrenden Nebenwirkungen) auf den Markt kam, war die Lage deswegen noch längst nicht unter Kontrolle zu bringen. Das Problemfeld vergrösserte sich noch. Die Stigmatisierung von HIV-positiven und/oder Aidskranken nahm erschreckende Ausmasse an, Männer, die Sex mit Männern haben – also primär Freier, die sich selbst niemals als homosexuell sehen würden und mit ihren ungeschützten Sexualkontakten wiederum andere gefährdeten, waren via die unterdessen institutionalisierten Kanäle nicht zu erreichen. Eine veritable Gegenbewegung wie etwa in Kalifornien, wo sich junge Schwule vorsätzlich ansteckten, um von den Privilegien des Gesundheitswesens zu profitieren und nicht bei jedem Sexualkontakt an diese Scheissseuche denken zu müssen, gab es in Zürich nicht in einem breiten Mass.

 

O-Töne und Missing Link

 

Das Herz der Ausstellung, die zu allen angetippten Themenfeldern Zeitzeugnisse und/oder künstlerische Aufarbeitungen versammelt, sind die Videos mit Originaltönen. Achtzehn Interviews mit Langzeitpositiven vom sexuell aktiven, heute gealterten Schwulen bis zur mit HIV geborenen jungen Frau, vom Aidsseelsorger bis zum Facharzt der ersten Stunde, ergeben ein eindrückliches Gesamtbild, dessen Klimax lautet: «JedeR HIV-Betroffene ist anders.» Das heisst, jede Gesundheitsgeschichte verläuft anders, die Zusammenhänge und Hintergründe sind verschieden und diese Vielfalt bildet die Ausstellung ab. Was entschieden fehlt, ist die sogenannte heutige Jugend und damit auch eine kritische Auseinandersetzung mit der chemischen Prophylaxe PrEP. Beim Ausgang prangt in grossen Lettern die Gleichung «n = n», was dafür steht, wer in Therapie ist und dessen HI-Zellen nicht mehr nachweisbar sind, ist nicht ansteckend. Dieses Wissen, das zuerst nur unter vorgehaltener Hand die Runde machte, weil es die Prävention torpedieren könnte, ist heute common sense. Jetzt braucht es nur noch auch in den Köpfen anzukommen.

 

«Problem gelöst? Geschichte(n) eines Virus», bis 5.1.20, Shedhalle in der Roten Fabrik, Zürich.
www.geschichten-eines-virus.ch

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