Schlag ins Gesicht

Die Opfiker Sozialvorsteherin Beatrix Jud geriet vergangene Woche in die Schlagzeilen. Sie bezieht seit einem Schlaganfall im Jahr 2012 eine IV-Rente, ist aber gleichzeitig weiterhin als Stadträtin von Opfikon tätig; vor rund einem Jahr wurde sie wiedergewählt. Dieses Amt entspricht einem 30-40-Prozent-Pensum.  Jud wurde überregional bekannt als Präsidentin der Sozialkonferenz Bülach. Diese machte Druck auf die SKOS-Richtlinien und wollte die Präsidentin der kantonalen Sozialkonferenz – FDP-Kantonsrätin Gabriela Winkler – abwählen und durch FDP-Kantonsrätin Linda Camenisch ersetzen lassen, die für eine härtere Gangart einsteht. 

Eine Exotin ist Beatrix Jud auch durch ihren Wechsel von der SP zur SVP. Sie fand laut ‹Magazin› damals wenig dabei: «Vorher sass ich auf dem linken Stuhl rechts, jetzt sitze ich auf dem rechten Stuhl etwas links.» Die SVP schloss Jud im vergangenen November allerdings aus der Partei aus, mit der Begründung, sie habe den Wechsel nie richtig vollzogen. Zudem bestehen offenbar auch Zweifel, ob Jud in Opfikon oder eigentlich bei ihrem Ehemann im Kanton Baselland wohnt.

 

Ich bin generell grosszügig gegenüber Sündern. Wer frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Gegen Steinigen habe ich sowieso prinzipiell etwas. Und Prinzipien sind nur etwas wert, wenn sie auch für Arschlöcher gelten. Die Versuchung, hier schadenfreudig zu sein, ist natürlich da. (Umgekehrt wird Jud von Leuten verteidigt, die bei einer Linken mit voller Kanne angreifen würden.) Doch was ist ihr – wenn überhaupt – vorzuwerfen? Da wäre ein allfälliger Sozialversicherungsmissbrauch, wenn sie ihre IV-Rente zu Unrecht erhalten würde. Ob das so ist, kann ich aufgrund der Faktenlage nicht beurteilen.

Laut Aussagen von ihr und ihrem Ehemann nicht.  Sie ist seit ihrem Schlaganfall nur noch reduziert arbeitsfähig. Diese reduzierte Arbeitsfähigkeit übt sie als Stadträtin aus. Als Treuhänderin kann sie momentan nicht mehr arbeiten, als Ersatz dafür erhält sie eine volle IV-Rente. Die Rente beantragte sie – laut ihrem Ehemann – auf Rat der Taggeldversicherung. Im Prinzip also nicht ihr Problem, sondern höchstens eines der IV.

 

Sie habe sich im Wahlkampf als Treuhänderin und Unternehmerin präsentiert, obwohl sie dies nicht sei. Nun ist es zwar einigermassen verständlich, dass sie ihre Rente und ihre Teil-Arbeitsunfähigkeit im Wahlkampf nicht an die grosse Glocke hängt. Doch am Schluss wird in solchen Fällen häufig die Lüge oder die Ausflucht zum Problem und gar nicht die Tat.  So wie beispielsweise bei Peter und Gisela Vollmer. Die beiden wohnen in einer Wohnung, die der Stadt Bern gehört. Das ist nichts Ehrenrühriges (ausser für ein paar Verwirrte – aber die würde es auch stören, wenn sie in einer teuren Privat- oder Eigentumswohnung wohnen würden). Der Hauptkritikpunkt in der Presse ist nun aber, dass Gisela Vollmer gegenüber der ‹Berner Zeitung› angegeben habe, sie zahle rund 3000 Franken Miete pro Monat. Tatsächlich sind es 2188 Franken und 418 Franken Nebenkosten. Vollmer hat also grosszügig aufgerundet.

Im Journalismus galt früher die Regel, dass eine Affäre eines Politikers oder einer Politikerin die Öffentlichkeit nichts angeht – es sei denn, er oder sie sei ein Moralapostel. Die Heuchelei ist die Sünde und nicht der Sex. Beatrix Jud gilt als Hardlinerin in Fragen der Sozialhilfe. Der Angriff auf die SKOS-Richtlinien ist in der Tat ein Angriff auf die Schwächsten und eine politische Sauerei. Nur hat das nichts mit der IV zu tun, denn eine Sozialversicherung ist nun mal nicht das gleiche wie die Sozialhilfe.

 

Politik ist allerdings keine exakte Wissenschaft. Jud hat sich vermutlich rechtlich nichts zu Schulden kommen lassen. Ob sie es politisch überleben wird, ist unsicher. Probleme hat sie aber einige – völlig unabhängig von der IV-Rente. Die Frage des Wohnsitzes war schon in ihrem Wahlkampf ein Thema.  Jud stellte sich auf den Standpunkt, dass sich ihr Ehemann und sie bei der Heirat auf getrennte Wohnsitze geeinigt haben. Das sei rechtlich möglich und auch bundesgerichtlich abgesegnet. Die Liebe kann dazu führen, dass man plötzlich noch zusätzlich einen anderen Wohnsitz hat und vom einen zum anderen Ort pendelt. Doch wenn man den Lebensmittelpunkt in einer Gemeinde zu haben vorgibt, dann sollte man sich wenigstens eine rechte Wohnung leisten. Die Adresse, die Jud als Wohnsitz angibt, ist laut Berichten des ‹Tages-Anzeigers› nämlich fremdvermietet. Zum zweiten hat sie sich in einer nicht ganz so langen politischen Karriere gleich mit zwei Parteien verscherzt. Das lässt  entweder eine allzu grosse ideologische Flexibilität vermuten, die dazu noch mit einer nicht einfachen Persönlichkeit gepaart ist. Zum dritten sagt ihr Mann, dass Beatrix Jud ihren Job als Treuhänderin nicht mehr ausführen könne, weil sie nicht mehr kopfrechnen könne und Mühe habe, die Schriftsprache zu verstehen. Das lässt tief blicken, welche Qualifikationen offenbar für ein Stadtratsamt in Opfikon gefragt sind.

Was mich aber wirklich stört an der ganzen Geschichte, ist etwas Grundsätzliches. Und dafür ist Beatrix Jud  politisch durchaus mitverantwortlich. Nämlich, dass es viele Leute gibt, die eine IV-Rente benötigen würden, aber keine erhalten oder sich ihr Recht erst mühsam erprozessieren müssen. Das ist gewollt, weil man die Anzahl der Bezügerinnen und Bezüger senken wollte. Für die Betroffenen, denen die Rente abgelehnt wurde, weil man fand, dass sie eine andere Arbeit annehmen könnten, ist dieser Fall wie ein Schlag ins Gesicht.

 

Man verzeihe mir die plumpe Assoziation – von Beatrix Jud zum als orthodoxen Juden verkleideten Fussballfan –  aber auch da geht es darum, ob rechtliche und moralische Relevanz in Einklang sind.  Luzerner Fussballfans trieben während eines Fanmarschs durch St. Gallen unter Gejohle einen als Juden verkleideten Mann vor sich her. Das Bild wurde in den Medien publik gemacht. Die St. Galler Staatsanwaltschaft tat dies in einer ersten Reaktion als «Fasnachtsscherz» ab – rechtliche Schritte seien nicht nötig. Der FC Luzern reagierte, indem er dem Fotografen (also dem Überbringer der Botschaft) die Akkreditierung entzog.

Das ist nicht das erste Mal, das in der Schweiz auf Rassimus und Antisemitismus mit Nonchalance reagiert wird. Immerhin sassen zwei Apartheid-Fans im Bundesrat. Und der Berner FDP-Regierungsrat Hans-Jürg Käser durfte ungestraft von «Negerbubli» schwafeln. Was daran fasnächtlich sein soll, einen als orthodoxen Juden verkleideten Mann zu verhöhnen (offenbar werden die St. Galler von den Luzerner Fans als Juden bezeichnet, warum weiss keiner), ist nicht nachvollziehbar.

Viel wurde darüber geschrieben und erbittert diskutiert, was Satire darf und was nicht. Ein ungeschickter Tweet von Doris Leuthard verurteilt. Dabei ist es einfach. Satire darf alles. Aber nicht alles ist Satire. Das gilt sinngemäss auch für Fastnachtsscherze. Antisemitismus ist Antisemitismus – auch in Fasnachtsform. Immerhin will die St. Galler Staatsanwaltschaft nun vielleicht doch noch aktiv werden.

 

 

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