Offline-Troll

 

Ich bin ja eine, für die sich das nähere Umfeld, oder die, die gerade mit mir unterwegs sind, gelegentlich fest schämen müssen. Weil ich bin eine Art Offline-Troll. Ich wüte sozusagen im öffentlichen Raum. Ich verteile Nastüechli an Fremde, wenn sie meines Erachtens zu laut rotzen. Zum Beispiel. Oder ich mische mich ungefragt in Diskussionen ahnungsloser Wanderergruppen im Zug ein. Vor allem in politische. Mein Mann geht mit mir nicht mehr ins Kino, weil ich alles massregle, was nicht völlig lautlos auf den Sitzen hockt. Wenn ich unfreundlich bedient werde, motze ich. Irgendwie ist da eine Wut in mir, die ich nicht so recht unter Kontrolle habe.

 

Blöd nur, dass ich mich dann online genau über jene aufrege, die eigentlich das Gleiche machen wie ich (ungefragt und undifferenziert motzen), einfach in Form von Leserkommentaren. Mir geht der Wutbürger auf die Nerven. Wirklich. Und er geht mir vor allem dort auf die Nerven, wo es um den Sozialstaat geht.

 

Kürzlich las ich einen Artikel über eine Frau, die aufgrund ihrer Behinderung 4447 Franken im Monat von der IV erhält. Nach Abzug aller Fixkosten bleiben ihr noch 400 Franken. Weil sie sparsam lebt, wie sie sagt, kann sie auch noch etwas auf die Seite legen und sich hie und da Ferien leisten.

 

Ein Facebook-Freund, der diesen Artikel postete, kritisierte ihn stark. Durch die Nennung des hohen Betrages ohne detailliertes Budget werde ein verzerrtes Bild vermittelt und der Diskussion um IV-Gelder ein Bärendienst erwiesen. Tatsächlich gibt es ja parallel noch die ausgesprochen hilfreiche Geschichte der Stadträtin aus Opfikon, die ebenfalls eine IV bezieht, aber keine Arme ist, sondern im Gegenteil ein Vermögen hat, mehrere Autos (so wurde berichtet) und eben Lohn von der Stadt erhält. Ob sie daneben immer noch als Treuhänderin arbeitet, ist nicht ganz klar (weder uns, noch ihr, noch ihrem Mann. Da muss man vielleicht kommunikativ noch ein bisschen arbeiten). Besondere Brisanz erhielt dieser Fall, weil sie als Politikerin hemmungslos gegen die «Vollkaskomentalität» in der Sozialhilfe schoss. Die Tonalität der Online-Kommentare in dieser Sache kann man sich leicht vorstellen. Da wütete er, der Troll, wahlweise gegen die Politiker, denen man ohnehin nicht über den Weg trauen kann,  die Sozialleistungen, die ja allesamt erschlichen werden, die Reichen, die trotz hohem Lebensstandard zusätzlich eine Rente beziehen und so weiter und so fort. Mittlerweile ist einigermassen klar, dass diese Rente rechtens ist, weil sie sowohl Reichen als auch Armen zusteht, denn es geht um den Lohnausfall aufgrund einer Behinderung und nicht um das vorhandene Vermögen. Das ist übrigens ein Konzept, das wir von der AHV kennen, auch hier kriegen Reiche ihre Rente, wenn sie ihr Leben lang einbezahlt haben.

 

Was mich an dieser und ähnlichen Diskussionen aber vor allem aufregt, sind zwei Dinge.

Erstens der chronische Missbrauchsverdacht. Mittlerweile muss zwingend immer vorgerechnet werden, warum jemand genau so viel und nicht weniger Geld erhält – seien es nun IV-Bezügerinnen, Sozialhilfeempfänger oder Arbeitslose. Medienschaffende machen dieses Rechnungsspieli mit und zementieren so die Ansicht, man müsse sich für Hilfe vom Staat auf den Rappen genau rechtfertigen. Und wehe, jemandem bleibt Ende Monat noch was übrig. Überleben ja. Aber dann noch ein bisschen Freude haben auf Kosten des Steuerzahlers, das sicher nicht.

Zweitens wird konsequent übersehen, dass das Problem ganz woanders liegt. Die Löhne sind zu tief. Der erzürnte Koch, der schrieb, er verdiene im Monat also weniger als diese 4447 Franken, die die IV-Bezügerin erhält und könne nichts auf die Seite legen, hat schon Recht. Es gibt noch zu viele, die mit vollem Lohn schlicht nicht über die Runden kommen. Das ist der eigentliche Skandal.

 

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