Migration mit oder ohne Pakt

Noch scheint der UNO-Migrationspakt vor allem Stoff für politisches Geplänkel oder Gepolter zu sein. Doch er macht die globale Dimension der Probleme sichtbar. Ein vielfach provozierendes Buch zeigt, was in weiteren Diskussionen an Grundsatzfragen dringend mit auf den Tisch muss. Auch diese «Kritik der Migration» ist kritisch zu lesen.

 

Hans Steiger

 

Vorab der Hinweis auf ein offizielles Papier: «Die Schweiz und der Migrationspakt». Es wurde den Medien im Oktober als Begleitdokument zur Mitteilung abgegeben, dass der Bundesrat seine Zustimmung zur UNO-Vereinbarung beschlossen habe, die am 10. und 11. Dezember in Marokko besiegelt werden soll. Sie postuliert erstmals global geltende Grundsätze zum Umgang mit Migrantinnen und Migranten – «rechtlich nicht verbindlich, aber politisch bindend», wie es im bundesrätlichen Positionspapier heisst.

 

‹Soft Law› mit globalen Regeln
Durch derartige Absichtserklärungen, sie werden auch als ‹Soft Law› bezeichnet, sollen Kooperationen erleichtert werden. «Wie die letzten Jahre gezeigt haben, sind zahlreiche Staaten ungenügend gerüstet, um die Herausforderungen globaler Migrationsbewegungen anzugehen. Fehlende Strukturen, um die Migration geregelter zu steuern, führen zu mehr irregulärer Migration, Verunsicherung in der Bevölkerung sowie zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen.» Ein erstes Gipfeltreffen zu diesem Themenkomplex fand nach einem diesbezüglich besonders bewegten Jahr im September 2016 statt. Simonetta Sommaruga setzte sich in der Folge dafür ein, dass die Schweiz bei der Ausarbeitung eines Paktes eine aktive Rolle spielte. Sie stellte mit Botschafter Jürg Lauber einen Verhandlungsleiter. In mehreren Zwischenberichten wurden Prozess und Ergebnis als positiv beurteilt.

 

Inzwischen aber wurde von der politischen Rechten, die nicht nur hierzulande von einer permanenten Verunsicherung der Bevölkerung durch Migrationsfragen profitiert, gegen diese Vereinbarung mobilisiert. Bezeichnenderweise scherten zuerst die USA aus, eine Reihe weiterer Staaten folgten, und unser Bundesrat gab dem Druck insofern nach, als er die Teilnahme an der Konferenz kurzfristig absagte, obwohl er überzeugt bleibe, «dass der Globale Migrationspakt der UNO den Interessen der Schweiz entspricht». Er wolle jedoch den Ausgang einer parlamentarischen Debatte abwarten … Wer diese Debatte verfolgt hat, ohne daraus klug zu werden, konsultiere die Dokumentation zum ersten Beschluss. Sie ist beim Bund nach wie vor als PDF verfügbar und enthält den Pakt-Text im Original. Zu den vom Bundesrat hervorgehobenen Punkten gehören «mehr Hilfe vor Ort» sowie «Kampf dem Menschenhandel und Menschenschmuggel», und neben die «nachhaltige Integration» stellt er eine «Reintegration» bei Rückführungsabkommen. Wer dies als einseitiges Plädoyer für Migration liest, muss auf einem Auge blind sein.

 

Gesetz des totalen Kapitalismus
Von ganz rechts wird der Migrationspakt als potenzielle Grenzöffnung für alle dargestellt. Damit wird die Chance vertan und vermutlich bewusst hintertrieben, eine Versachlichung der Auseinandersetzung zu erreichen, die seit Jahrzehnten von Überfremdungsängsten geprägt ist. Und durch Unredlichkeiten vergiftet, denn bei der politischen Steuerung von Zuwanderung waren stets ökonomische Faktoren im Spiel, über die wenig gesprochen wurde. Zwar ist oft von Wirtschaftsflüchtlingen die Rede, aber kaum von den heute global geltenden kapitalistischen Gesetzen, die Unzählige zum Verlassen ihrer Herkunftsländer zwingen. Es gäbe und gibt in dem Zusammenhang durchaus auch Gründe zur «Kritik der Migration» von links, wie ein aktuelles Buch mit diesem Titel zeigt.

 

Hannes Hofbauer beschreibt dort als Historiker in Rückblenden, wie Menschen einst zur Fabrikarbeit genötigt wurden: Durch den Entzug der Nutzung von Grund und Boden, die Zerstörung kleiner Selbstversorgungsstrukturen. Die zur Produktion nicht mehr Benötigten, also im kapitalistischen System schlicht Überflüssigen, wurden als Eroberer in die USA oder in Kolonien geschickt, was wiederum «in der Neuen Welt zerstörerisch gegenüber dem dort Alten» wirkte. Die jeweils nach Bedarf staatlich gelenkte Arbeitsmigration wird «bis zum Gastarbeiterimport» skizziert, der die europäischen Kerngebiete seit den 1960er Jahren mit politisch rechtlosen Hilfskräften versorgte. Ein besonderes und besonders düsteres Kapitel ist jenes über die Zwangsarbeit unter der NS-Herrschaft.

 

Der von ihm so genannte «Migrationsschub Ost nach 1989/91» war dem österreichischen Autor relativ nah. Was er da etwa über pendelnde Landarbeiter oder Altenpflegerinnen schreibt, geht unter die Haut. «Osteuropa blutet aus», lautet ein Zwischentitel. Und das ist belegt, durch Zahlen und Beispiele einer absurden Dynamik. In einer nordrumänischen Stadt fehlen praktisch alle Menschen im erwerbsfähigen Alter, zumindest saisonal, was die lokale Politik vor kaum lösbare Probleme stellt. 7000 in Rumänien ausgebildete Ärzte verliessen zwischen 2011 und 2016 das Land. Allein in der Schweiz seien heute etwa 8000 Ärzte tätig, «deren Ausbildungskosten von anderen Staaten getragen wurden». Umgekehrt wird jetzt die in Rumänien verbliebene Textilindustrie mit philippinischen Näherinnen am Laufen gehalten. Pflegekräfte, die in Polen fehlen, werden aus der Ukraine geholt. Womit sich die nicht nur für viele Familien, sondern für ganze Gesellschaften zerstörerische Spirale weiterdreht.

 

Sesshaftigkeit gegen Mobilität?
Dass den Unternehmen eine «Reservearmee» willkommen ist, mit der sich Löhne drücken sowie solidarisches Handeln erschweren lassen, ist klassisch gewerkschaftlich orientierten Linken zwar bewusst. Doch in der Regel werden Kompromisse angestrebt, die Wachstum und Wohlstand sichern sollen. Im dominanten, eher «globalistisch-neoliberal» geprägten Diskurs heisst das dann Win-win-Situation. Mobilität gilt als Fortschritt, wird gefordert und gefördert. «Die Frage, wer die Verluste dieses menschlichen Transfers trägt, bleibt ungestellt.»

 

Die kosmopolitische Entwicklung in den Zentren habe ja auch ihren Reiz, räumt der Autor ein. Wer sich dagegen stellt, gelte als «rückwärtsgewandt, provinziell, national, rechts». Eine ernsthafte Kritik am Zwang zur Mobilität gebe es fast nur mit Blick auf Umweltschutz und raumplanerische Fehlentwicklungen. In diesem Zusammenhang wird der Wiener Verkehrsexperte Knoflacher zitiert: «Mobilität ist immer Ausdruck eines Mangels am Ort.» Das sei bei der Migration nicht anders, fährt Hofbauer fort. Wer keine ausreichende Zukunftsperspektive daheim finde, suche sein Glück in der Ferne. Zuvor schon hatte er den allgemeinen Wunsch nach Mobilität relativiert, Migration als Ausnahme und die Sesshaftigkeit als Norm postuliert. Gerne hätte ich diesen Gedanken weiter ausgeführt und begründet gesehen. Tatsächlich kommen in der Migrationsdebatte ökologische Aspekte – zumal die Klimafrage – meist zu kurz, auch in diesem Buch.

 

Merkel, Muslime und Medien …
Präzisierungen zum Plädoyer für Sesshaftigkeit wären zudem nötig gewesen, um die Position klarer von jener der sogenannten Identitären Bewegung abzugrenzen, die mit völkischen Begriffen operiert, Kulturen gegeneinander stellt, Europa insbesondere vor einer drohenden Islamisierung bewahren will. Denn der Ton ist oft erschreckend ähnlich. Schon im ersten Satz des Vorworts taucht das Bild «der grossen Wanderung der Muslime» auf. Ihnen habe Angela Merkel «unter aufmunternden Zurufen aus Unternehmer- und Kirchenkreisen» im Hochsommer 2015 «die Migrationsschleuse» geöffnet. Das kommt als Exempel immer wieder, einer Litanei gleich. Merkel habe mit ihrem «Willkommensgruss an Hunderttausende» alle überfahren, Chaos in mehreren Ländern ausgelöst. Berufen habe sie sich zwar auf das Asylrecht politisch Verfolgter, aber unterstellt werden ihr ganz andere Motive, nicht zuletzt ein perfides militärisches Kalkül. NATO und Saudi-Arabien hätten einen Machtwechsel in Damaskus angestrebt. «Die massenhafte Aufnahme von syrischen Deserteuren in Deutschland zur Schwächung des Assad-Regimes ist die logische Konsequenz dieser Politik.» Hinter der angeblichen Menschlichkeit sei «der deutsche Imperialismus» zum Vorschein gekommen. Berlin habe der EU seine Strategien aufzwingen wollen.

 

In die böse Polemik mit einbezogen werden auch alle, die sich vom «Wir schaffen das!» motivieren liessen. Helfende sind entweder naiv, auf «Selbstfindung» aus oder einfach geschäftstüchtig. Obwohl der Begriff Gutmensch nicht auftaucht, schwingt er zwischen den Zeilen mit, ebenso die Lügenpresse. Meist werden die Medien als willige Gehilfen noch vor den politisch Verantwortlichen genannt. So sei etwa «der oft medial vermittelte Eindruck», dass sich in den «Flüchtlingstrecks» ganze Familienverbände nach Europa bewegten, völlig falsch. «Es waren gerade nicht die Schwächsten, die Alten, die Frauen, sondern die physisch Stärksten.» Die im Kern korrekte Feststellung wird durch ein provozierendes Pathos entwertet.

 

«Schiessen – Flüchten – Helfen»
Warum sich die Lektüre trotzdem antun? Weil sie auch viele wichtige Feststellungen enthält. Etwa die, dass es tatsächlich «massenhafte Vertreibungen» gab, Menschen ihre Städte und ganze Landstriche verlassen mussten, «weil der Krieg alles verheert hatte», in Syrien, im Irak und noch an vielen anderen Brennpunkten, wo keineswegs nur interne Konflikte ausgetragen würden. Meist sei diese Art von Migration lediglich der «Schlussstein im Mosaik globalistischer Interventionen», welche Millionen von Menschen gewaltsam die Lebensgrundlage entziehen. Hofbauer fasst den fatalen Ablauf in die Formel: «Schiessen – Flüchten – Helfen.» An dessen ständige Wiederkehr hätten sich leider nicht nur die Zyniker dieser Welt gewöhnt. «Sie zu durchbrechen, hat sich der vorliegende Text zur Aufgabe gemacht.» Umso mehr ist zu bedauern, dass er die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten durch unnötige Zuspitzung erschwert.

 

Hofbauer wandte sich im aktuellen Internet-Disput gegen die UNO-Vereinbarung, da diese lediglich «weltweite Ungleichheit» verwalten helfe; die «ungleiche Entwicklung, Kriege und Vertreibungen werden nicht thematisiert». Sind solche Grundsatzfragen zu Ursachen der Probleme nicht in die laufende Debatte über globale Lösungen einzubringen? Dass der Pakt mit dem zwiespältigen ‹Soft Law›-Stempel nicht diskret durchgewinkt werden konnte, ist in dem Sinn nicht schlecht. Auf die Qualität der Diskussion käme es an. Verstecken, verschieben, verdrängen hat sich stets gerächt, real wie politisch.

 

Hannes Hofbauer: Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert. Promedia, Wien 2018, 271 Seiten, 20 Euro

 

Die Schweiz und der Migrationspakt. Informationsnotiz und Dokumentation zur Medienmitteilung vom 10. Oktober 2018. Enthält auch das englischsprachige Original des UNO-Migrationspakts. Digital abrufbar beim EDA. Eine deutsche Fassung ist greifbar unter
www.friedensrat.ch/migrationspakt

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