In den Tiefen des Tresors

 

Am Mittwoch war meine letzte Gemeinderatssitzung, und das lässt mich ein wenig nostalgisch werden. Wie meistens, wenn man ein wenig nostalgisch wird, verklärt sich auch die Erinnerung. Die ätzenden Momente verblassen, die guten bleiben.

Ich habe einen Abschiedsbrief verfasst, in dem ich ein Lob der Gemeindepolitik ausgesprochen habe. Dabei Willy Ritschard zitiert, der in einer Rede mal sagte: «Die Freude und Sorgen der Menschen sind Geschehnisse im kleineren Raum. Der Bürger lebt in seiner Familie, seinem Arbeitsplatz, in seiner Gemeinde und in seiner Region. Hier muss er Politik erkennen. Hier muss für ihn Solidarität und der Wille zur Gemeinschaft sichtbar werden. Wer ernst machen will mit der demokratischen Gesellschaft, der muss sie vorerst in der Gemeinde anstreben.»

 

Gemeindepolitik macht weder reich noch sexy, aber ist stets konkret und anschaulich, man kann hier – um noch einmal Willy Ritschard zu zitieren – «wachsen sehen, was man politisch bewirkt hat».

Die Lokalpolitik hatte noch nie viel Rampenlicht und kriegt davon immer weniger. Warum den mühsamen Umweg machen über die Kommunalpolitik, wenn man doch gleich in den Nationalrat gehen kann. Das denken sich auf jeden Fall einige der Politiker, die jeweils sehr viel Geld in einen Nationalratswahlkampf investieren, weil sie denken, dass sie damit die etwas mühsame Ochsentour überspringen können. In der Regel klappt das allerdings nicht. Zu beobachten ist das Phänomen trotzdem, dass sich alles immer mehr um die nationale Politik dreht.

Noch kann ich die wahren Unterschiede zwischen Gemeinderat und Nationalrat nicht ganz beurteilen. Man stellt sich dann ja jeweils vor, dass dort oben in Bern alles ein wenig grösser sei, professioneller oder seriöser als bei uns. Allerdings ist es ja dann häufig so, dass die anderen auch mit Wasser kochen.

 

Christina Neuhaus schrieb in einem Artikel in der NZZ, der Zürcher Gemeinderat sei besser als sein Ruf. «Natürlich plätschern nicht wenige Debatten als dünnes Rinnsal vor sich hin, natürlich verzetteln sich die Damen und Herren Volksvertreter gerne in Nebensächlichem, und natürlich macht man dort – um ein Lieblingswort der Ex-Gemeinde- und heutigen Nationalrätin Jacqueline Badran zu gebrauchen – manchmal etwas gar viel ‹Gedöns›.» Aber die Stadt Zürich biete genügend Herausforderungen, um aus Feierabendpolitikern gestandene Politiker mit solider staatsbürgerlicher Ausbildung zu machen.

 

Das mag wohl ein wenig zu viel der Ehre für den Gemeinderat sein. Aber so weit weg von Bern ist Zürich auch nicht. Die jüngsten Schlagzeilen rund um die Bundesratswahl erinnerten mich an ein eher unrühmliches Ereignis in der jüngeren Zürcher Gemeinderatsgeschichte: Die Budgetrückweisung. Damals hatte eine hauchdünne Koalition aus SVP, FDP, CVP, GLP und EVP beschlossen, das Budget zurückzuweisen, auf dass der Stadtrat ein ausgeglichenes Budget vorweisen sollte.

Da diese Koalition von Anfang an auf wackligen Füssen stand und deren treibenden Kräfte auch allfälligen kalten Füssen vorbeugen wollten, mussten die Fraktions- und Parteipräsidenten eine Erklärung unterschreiben, dass sie in allen Fällen an der Rückweisung festhalten mussten. Diese von allen unterschriebene Erklärung ist gerüchtehalber im Tresor von Mauro Tuena eingelagert.

 

Nun berichtete die NZZ am Dienstag, dass auch alle Bundesratskandidaten der SVP eine schriftliche Erklärung abgegeben haben, dass sie eine Wahl in den Bundesrat ablehnen würden, falls sie als nichtnominierte Bewerber gewählt würden. Diese Erklärungen sind nun im Tresor von Ernst Hasler, dem Präsidenten der Findungskommission der SVP gelagert, wie der ehemalige Regierungsrat der NZZ gegenüber sagte.

Ich frage mich in beiden Fällen: Wieviel ist denn eigentlich diese Unterschrift wert? Beziehungsweise, was passiert eigentlich, wenn sich jemand nicht daran hält? Eigentlich nichts. Wäre einer der Partner der sogenannten Spar-Allianz aus der Koalition ausgestiegen und hätte gegen die Rückweisung gestimmt, wäre nichts geschehen. Ausser ein wenig Schimpf und Schande natürlich. Und man hätte sich nicht gerade als verlässlicher Partner empfohlen. Das wäre aber bei einem Handschlag genauso das Problem wie bei der unterschriebenen Erklärung.

Trotzdem taten sich doch einige Beteiligte in der Spar-Allianz schwer. Auch wenn ihnen längst nicht mehr wohl war in der Truppe, wagten sie sich nicht mehr raus. Der Hauptgrund für das Verbleiben in der Allianz: Die Unterschrift. Claudia Rabelbauer sagte dies denn auch in der entsprechenden Ratsdebatte.

 

Das gleiche gilt für den nichtnominierten Bewerber. Im Prinzip kommt es nicht darauf an, ob jetzt seine Erklärung in Haslers Tresor liegt oder nicht. Nimmt er die Wahl an, wird er aus der Partei ausgeschlossen, egal ob mit oder ohne Erklärung. Und vielleicht auch wieder aufgenommen (eine kleine Exit-Strategie ist ja vorgesehen). Es käme eigentlich nicht darauf an. Doch vermutlich würde tatsächlich keiner der elf der Findungskommission gemeldeten Kandidaten die Wahl annehmen. Wegen der Unterschrift.

Ich habe, als es um die Abstimmung über die SVP-Initiative ging, ein wenig mit der Volkswahl des Bundesrates geliebäugelt. Es schien mir nicht einsichtig, warum nicht auch der Bundesrat, wie Regierungs- und StadträtInnen, vom Volk gewählt werden sollten. Zumal gerade die SVP in Majorzwahlen häufig Mühe hat. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die Grünen in einer Volkswahl grössere Chancen auf einen Sitz hätten als SVP-Hardliner. Heute bleiben die kleineren Parteien aussen vor, und die SVP diktiert der Bundesversammlung, wen wir zu wählen haben.

Andi Gross schrieb in seinem kleinen Buch «Nur scheinbar demokratisch» als Antwort auf Cédric Wermuth, der ebenfalls mit der Volkswahl des Bundesrats sympathisierte: «Die Volkswahl würde keine Repolitisierung und schon gar keine Demokratisierung mit sich bringen, sondern bloss mehr Spektakel, mehr Radau, mehr Wahlkampf, mehr Personifizierung und mehr Skandalisierung.»

Ob dieses Verfahren, wie wir es jetzt erleben, wirklich weniger Jux und Tollerei bietet, muss ich angesichts der letzten Wochen ein wenig bezweifeln. Für ein derartig wichtiges Amt scheinen mir die Fristen und die Dauer von der Nomination zur Wahl doch relativ kurz. Was ist, wenn jemand der Kandidierenden eine Leiche im Keller hat? Man würde sie vor der Wahl sicher nicht finden. Qualifikation für den Bundesratsposten? Nebensächlich: Hauptsache, man hat eine Erklärung unterschrieben.

Wie dem auch sei, die Volkswahl des Bundesrats wird vom Volk nicht gewünscht, die SVP-Initiative wurde hochkant abgelehnt und es hat kaum Sinn, sich länger damit zu beschäftigen. So bleiben die Leichen vorderhand im Keller und die Unterschriften in den Tresoren. Und wer gewählt wird, sehen wir erst dann.

 

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