Gestopfte Löcher, neue Privilegien?

Morgen Samstag entscheiden die Delegierten der SP Schweiz, welche Parole sie zum Bundesgesetz über die Steuerreform und die AHV-Finanzierung, kurz STAF, vertreten und ob sie ein allfälliges Referendum unterstützen wollen. Die Nationalrätinnen Jacqueline Badran (Pro) und Mattea Meyer (Kontra) nehmen Stellung im Streitgespräch, aufgezeichnet von Nicole Soland.

 

Sie, Frau Badran, waren der ‹Motor› des Neins zur Unternehmenssteuerreform III (USR III). Diese hätte rund 3 Mia. Franken Steuerverluste bedeutet. Beim STAF sind es immer noch 2 Mia. – und Sie sagen Ja?
Jacqueline Badran: Die SP kämpft seit Jahrzehnten gegen den ruinösen internationalen Steuerwettbewerb und die dadurch faktische Vernichtung von Steuersubstrat. Diese Vorlage bringt uns endlich eine Wende: Den Ausstieg aus einem der grössten Unternehmens-Steuerschlupflöcher der Welt (Holdingprivileg, Statusgesellschaften) und eine internationale Harmonisierung und Einschränkung des Steuerwettbewerbs. Sie macht die Sünden aus den Unternehmenssteuerreformen I bis III teilweise rückgängig. Natürlich sage ich da klipp und klar Ja.

 

Sie, Frau Meyer, sind dagegen: Was stört sie am meisten am STAF?
Mattea Meyer: Die Abschaffung der Steuerprivilegien ist unbestritten, sie ist ja der Ursprung der Steuerreform. Doch mit dem Steuer-AHV-Deal betreibt die Schweiz ihr Steuerdumping weiter – und wir bleiben erpressbar durch grosse Konzerne. Hinzu kommt, dass es nur eine minimale Gegenfinanzierung gibt. Wir brauchen keinen sozialen Ausgleich für die Bevölkerung. Wir brauchen eine Finanzierung durch jene, die von den Steuererleichterungen profitieren, also von den Konzernen und AktionärInnen.Wenn man bedenkt, dass rund 60 Prozent der Stimmberechtigten die USR III bachab geschickt haben – bei einer Vorlage obendrein, die praktisch nur die SP bekämpft hat – ist das einfach zu wenig.

 

J.B.: Die Multis, die bisher riesige Steuerprivilegien genossen, müssen neu rund zwei Mia. Franken mehr Steuern zahlen. Die prognostizierten Steuerausfälle resultieren allesamt daraus, dass die Kantone überkompensieren und ihre allgemeinen Steuersätze zu stark senken. Die Musik spielt also in den Kantonen, dort müssen wir gegen Übertreibungen ankämpfen und für bessere Gegenfinanzierung sorgen, zum Beispiel mit der Erhöhung der Dividendenbesteuerung oder der Kapitalsteuer.

 

M.M.: Aber das können wir nur glaubwürdig tun, wenn wir auf nationaler Ebene nicht Ja zu neuen Steuerprivilegien für die Kantone sagen. Nehmen wir zum Beispiel den Forschungs- und Entwicklungsaufwand, der neu zu 150 Prozent abgezogen werden kann. Das ist, wie wenn ich Weiterbildungskosten von 10 000 Franken hätte, aber 15 000 Franken abziehen könnte. Eine Subvention, die nicht als solche deklariert ist – das gibts sonst nirgends.

 

J.B.: Hallo? Die Abzüge für Patentgewinne, Forschung und Entwicklung haben praktisch alle anderen europäischen Länder auch und gehen teilweise deutlich weiter als wir! Zudem sind alle Abzüge direkt an den Personalaufwand in der Schweiz gebunden, also an reale Arbeitsplätze. Nur Patente, die in der Schweiz erfunden wurden, gelten. Software wurde rausgenommen, die zinsbereinigte Gewinnsteuer rausgekippt ausser für Zürich, die Mindestbesteuerung erhöht. Und die Gegenfinanzierung wurde erst noch deutlich verbessert. Das alles sind enorme Verbesserungen gegenüber der USR III, sind gezielte Instrumente und verhindern deshalb, dass die Kantone die allgemeinen Unternehmenssteuern zu stark senken müssen. Damit wird also der rui­nöse interkantonale Steuerwettbewerb stark eingeschränkt. Und hätte man mir vor einem Jahr gesagt, dass wir das Kapitaleinlageprinzip aus der USR II von Bundesrat Merz teilrevidieren können, ich hätte gesagt, «Du Träumer Du». Das ist eine, zwar zugegebenermassen zu kleine, aber echte Gegenfinanzierung.

 

Wenn die Steuerprivilegien international geächtet und deshalb längerfristig sowieso nicht haltbar sind, weshalb braucht es denn eine Patentbox oder weitere neue Privilegien?
M.M.: Genau aus diesem Grund braucht es sie eben nicht. Der Zeitpunkt ist ideal, um endlich Tabula rasa zu machen. Doch die aktuelle Vorlage schafft die Möglichkeit, die Bemessungsgrundlagen so weit zu kürzen, dass in die Vorlage eine Sicherung eingebaut werden musste – mindestens auf 30 Prozent des Gewinns sollen die Unternehmen weiterhin Steuern zahlen müssen. Das ist doch absurd. Oder nehmen wir die zinsbereinigte Gewinnsteuer, die nur für den Kanton Zürich vorgesehen ist, weil sie an einen Mindeststeuersatz gekoppelt ist: Bundesrat Maurer hat bereits angekündigt, dass diese bei künftigen Reformen wieder aufs Tapet kommen könnte, wenn die anderen Kantone diesen trotz tieferen Gewinnsteuern ebenso anwenden wollen. Damit wird ein wesentlicher Teil des Kompromisses bereits wieder infrage gestellt.

 

J.B.: Falsch: Die Finanzierungsgesellschaften werden dank Abschaffung der Steuerstati viel höher besteuert werden, und zwar selbst in Zürich, wo die zinsbereinigte Gewinnsteuer als neues Instrument eingeführt werden darf. Dieses Instrument verhindert, dass Zürich den Steuersatz unter 18 Prozent senken muss und somit mehr Steuerausfälle einstecken muss. Nochmals – die Kompensationsinstrumente verhindern zu hohe Steuerausfälle, sie sind nicht deren Ursache. Man kann ein solches System unmöglich schockartig reformieren, sondern nur mit einem schrittweisen Ausstieg in internationaler Kooperation via OECD. Und da geht es massiv vorwärts. Wir sind und bleiben real erpresst.

 

Man könnte auch umgekehrt argumentieren: Man kann die STAF gut befürworten, gerade weil es nur eine Frage der Zeit ist, bis die nächsten Privilegien unter Druck kommen.
J.B.: Genau, es ist ein Ausstieg in Salamischeiben. Eine Schocktherapie ist weder mehrheitsfähig noch vernünftig.

 

M.M: Ich bezweifle, dass es wirklich eine Salamitaktik ist. Die neuen Privilegien werden wohl für die nächsten zehn Jahre gelten – bis wir wieder international unter Druck kommen. Wir würden dann erneut am gleichen Punkt stehen wie jetzt und müssten wieder diskutieren, was wir den Unternehmen geben müssen, damit sie bleiben. Zudem sind die Gewinnsteuern bereits heute absolut konkurrenzfähig. Zu all den neuen Steuerumgehungsinstrumenten kommt hinzu, dass der Bund den Kantonen eine Milliarde gibt und sie auffordert, ihre Gewinnsteuern zu senken. Staatlich verordneter, interkantonaler Steuerwettkampf sozusagen.

 

J.B.: Es ist umgekehrt – die erhöhten Bundesbeiträge an die Kantone verhindern, dass die Kantone die Gewinnsteuern zu stark senken müssen, um die Firmen hier zu halten. Und gegen den noch viel ruinöseren interkantonalen Steuerwettbewerb können wir im Rahmen des Finanzausgleichs und mit einer Harmonisierungsinitiative gegensteuern. Da muss unsere Energie hinein. Wir haben langsam die Mehrheit der Kantone, die sich nicht länger von den kleinen Kantonen erpressen lassen wollen.

 

M.M.: Bei einer Harmonisierungsinitiative finden wir uns. Aber wenn wir beim Bund Steueroptimierungs-Instrumente ermöglichen und dann die Kantone dafür kritisieren, dass sie diese auch anwenden und die Gewinnsteuer senken, dann ist das der Bevölkerung schwierig zu erklären. Wir haben beim Kapitaleinlageprinzip zwar Verbesserungen erreicht – bei der Dividendenbesteuerung sind wir aber hinter den Vorschlag des Bundesrats gefallen.

 

J.B.: Unsinn – wir werden die Kantone nicht dafür kritisieren, dass sie diese Instrumente wie ganz Europa auch anwenden, sondern weil sie die Unternehmenssteuern zu stark senken und die Dividendensteuern nicht genug anheben. Die Ausfälle kommen nicht durch die Anwendung der neuen international anerkannten Instrumente, sondern durch die angekündigten Gewinnsteuersenkungen! Nochmals – so pervers sich das anhört, die Instrumente verhindern zu viel Steuerausfälle! Und nochmals: Es liegt an uns, in den Kantonen 70 oder lieber 80 Prozent Dividendenbesteuerung als Gegenfinanzierung herauszuholen.

 

Wenn wir die international geächteten Steuerprivilegien nicht aufheben, landen wir auf der Schwarzen Liste der OECD und sind als Offshore-Paradies gebrandmarkt. Das sollten wir doch nicht riskieren?
M.M.: Entschuldigung, aber das ist nicht das Problem der Sozialdemokratie: Die Schweiz ist eine Bananenrepublik, was die Steuerpolitik anbelangt. Es ist auch richtig, dass die Schweiz auf die Schwarze Liste kommt, wenn die Steuerprivilegien nicht aufgehoben werden.

 

J.B.: Vermutlich werden die einzelnen Firmen von selber aus den bisherigen Privilegien aussteigen, weil sie sich internationale Ächtung nicht leisten können. Als Kompensation würden sie – auf bestehender gesetzlichen Grundlage! – ihre bisherigen Privilegien aktivieren und über Jahre abschreiben, bis sie sich steuertechnisch neu aufgestellt haben. Dann zahlen sie über Jahre genau Null Franken Steuern: Wer will denn sowas? Andere würden ebenfalls den Status aufgeben und in die Tiefsteuerkantone ziehen und ihre Finanzierungsgesellschaften nach Luxemburg verlagern. Es ist der interkantonale Steuerwettbewerb, der schmerzt, und diese Vorlage dämmt ihn ein. Bei einem Nein wird er noch ruinöser.

 

M.M.: Die Aktivierung der stillen Reserven ist auch mit der STAF möglich.

 

J.B. Falsch: Nur noch bei Zuzügern. Aber das ist wegen der Exitsteuern anderer Länder bedeutungslos. Nur übergangsmässig für fünf Jahre ist dies weiterhin für bisher privilegiert Besteuerte möglich. Alles in allem wird die heutige Situation künftig massiv eingeschränkt.

 

Die STAF-Vorlage beinhaltet auch zwei Milliarden Franken jährlich für die AHV. Das können wir doch nicht abzulehnen?
J.B.: Genauso wie der Steuerteil bringt der AHV-Teil Errungenschaften, für die die SP Jahrzehnte – genau 43 Jahre – gekämpft hat: Eine zusätzliche Finanzierung der AHV über die Löhne ohne irgendeinen Leistungsabbau. Unfassbar toll. Das heisst 93 Prozent der Bevölkerung verdient an der Vorlage, weil sie mehr bekommen als sie einzahlen. Das bekommen wir nie, nie wieder. In Bersets AHV-Vorlage sind zur Finanzierung nur Mehrwertsteuerprozente vorgesehen, das macht es für die Bevölkerung dreimal teurer, wegen dem fehlenden gigantischen Umverteilungseffekt aus der Lohnprozent-Finanzierung. Allein deshalb muss man die Vorlage annehmen: Das ist 1000 Prozent SP.

 

M.M.: Der AHV-Teil ist unbestritten ein wichtiger Fortschritt. Ich kann gut verstehen, dass man alles dafür tun will, diesen Erfolg nicht zu schmälern. Aber er macht für mich die negativen Teile der Steuerseite nicht wett. Und es geht auch um Grundsätzliches: Zum ersten Mal seit langem akzeptieren wir, dass es angeblich keine Alternative zu neuen Steuergeschenken gibt. Die SP stützt neue Privilegien für grosse Konzerne und nimmt Milliardenausfälle für die Bevölkerung in Kauf? Das geht nicht.

 

J.B.: Niemand behauptet, wir seien nicht erpresst: Ich behaupte nur, wir müssen schrittweise aussteigen. Und genau dies bringt diese Vorlage. Sie bekommen nur sogenannte ins­trumentale «Steuergeschenke», die alle anderen europäischen Länder auch haben. Ja – das ist nunmal zur Zeit alternativlos. Das stinkt mir auch gewaltig. Bei einem Nein zu glauben, wir hätten uns aus der Erpressung geführt, ist komplett verquert. Wir müssen Probleme lösen und nicht unsere Wunschwelt bauen. Das mache ich gerne gemeinsam mit Dir nach der Abstimmung…

 

Wir bekommen also Milliardenausfälle wegen der Steuerreform und wegen der AHV. Wer soll das bezahlen?
M.M.: Auch wenn die Ja-Seite nie davon redet – bezahlen werden die gleichen Leute, die davon profitieren, dass mehr Lohnprozente bei der AHV landen. Es sind wir alle, es sind jene, die am meisten unter Abbauprogrammen im sozialen Bereich respektive von Kürzungen bei der Prämienverbilligung, der Bildung oder der Kinderbetreuung leiden. Und eben gerade nicht die grossen Firmen, wie es der Fall gewesen wäre, wenn wir eine richtige Gegenfinanzierung hätten herausholen können.

 

J.B.: Ein Nein bedeutet noch viel höhere Steuerausfälle. Weil dann Gewinnbestandteile verschoben werden. Und die Steuerausfälle sind noch längst nicht gegessen, das kommt allein und nur auf die Kantone an. Aber ja, die zahlen wir, die Bevölkerung. Völlig anders ist es bei der AHV: Aus Perspektive Unternehmen sind das einfach 0,3 Prozent höhere Lohnkosten. Diese gehen zu Lasten der Gewinne. In funktionierenden Arbeitsmärkten kann man diese Zusatzkosten nur beschränkt oder nicht auf die Arbeitnehmenden überwälzen. Es zahlen also die die Aktionäre. Selbst wenn nicht: 93 Prozent der Bevölkerung verdienen an jedem einzelnen Lohnprozent. Das nehmen wir noch so gerne.

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