Zum Niederknien

Zeitung lesen birgt die Gefahr, auf Ideen gebracht zu werden. Innert weniger Wochen verlockte das Feuilleton der ‹Zeit› mit hymnischen Ausstellungsbesprechungen über gleich zwei Monumente der Bildenden Kunst in derselben Stadt zu einer persönlichen Begegnung mit den Werken von Tizian und Modigliani. Wien also.

 

Von den Werken italienischer Altmeistersuperstars und Ikonen der Moderne in überwältigende Verzückung zu geraten und bei der physischen Begegnung damit in ein euphorisches Glücksgefühl zu fallen, das einen tagelang in einen gefühlten Schwebezustand versetzt, ist jetzt nicht grad der Inbegriff von progressiv. Aber halt Balsam fürs Seelenheil. 

 

Jeder relativierende Gedanke an eine potenzielle Verwerflichkeit, à la von Männern gemalte nackte Frauen anschauen zu gehen, verpufft im Augenblick der realen Begegnung mit den 500 Jahre alten malerischen Lobpreisungen der Schönheit der Frau aus der Hand von Tizian. Er verlieh seinen Frauenfiguren eine solche Erhabenheit und Würde, dass emotional gar kein Platz für niedere Gedanken bleibt. Nur schon die erkennbare verschiedene Hautbeschaffenheit der drei ausgestellten «Belles» nebeneinander (siehe Abbildungen) lässt einen über die herausragende malerische Kunstfertigkeit erschaudern. Oder wie es die federführende Kuratorin Sylvia Ferino-Padgen nennt: «Der grosse Venezianer vermochte es wie kein anderer Maler des 16. Jahrhunderts, die von ihm erschaute Realität mit einer derart konzentrierten Intensität zu füllen, dass man beim Anblick seiner Gemälde den Eindruck gewinnt, er habe sie gerade für uns neu erfunden.» Beim Betreten der überaus gut besuchten, wenigen Säle von «Tizians Frauenbild. Schönheit – Liebe – Poesie» im Kunsthistorischen Museum Wien, begleitet einen die kleine Irritation, keiner ausschliesslichen Tizian-Ausstellung beizuwohnen, was sich aber bei eingehender Beschäftigung damit rasch in mehrerlei Hinsicht auflöst. Gerade durch die direkte Gegenüberstellung seiner Werke mit jenen von weiteren Grössen der Venezianischen Schule der Renaissancemalerei wie Jacopo Tintoretto, Paolo Veronese oder Giovanni Bellini manifestiert sich Tizians Ruf als unangefochtener Superstar augenscheinlich. Seine Gemälde sind einfach noch plastischer, noch lebendiger, noch erhabener. Was sie quasi auf Anhieb erkennbar macht. Und: Die hinter dieser Ausstellung steckende, wissenschaftliche Auseinandersetzung eines reinen Frauenteams beleuchtet die nachgerade protofeministisch zu nennende Stellung der Frau in Venedig im 16. Jahrhundert. Sie fördert zutage, inwieweit der (aristokratischen) Frau im intellektuellen Klima der Hochzeit der Serenissima die Bildung, die Künste (insbesondere die Literatur), der bedeutende (indirekte) Einfluss auf die Politik, die Hoheit über ihre Mitgift und sogar vergleichsweise freie unternehmerische Aktivitäten nicht nur offen standen, sondern ihr gesetzlich wie gesellschaftlich eine weit grössere Selbstermächtigung als bislang vermutet attestierte. Noch als Frage formuliert, ist die möglicherweise noch grössere Freiheit der Frau in «sozialen Gruppen, die nicht der dynastischen Logik unterworfen waren». Diese Ausstellung erweist sich also in jeder Hinsicht als ein einziges Hohelied auf die Frau.

 

Rausch und Erkenntnisse

Nach all diesen berauschenden Frauenportraits mit profanem, religiösem oder mythologischem Hintergrund, lockte der Müssiggang durch die hauseigenen Gemäldegalerien. In einem der verhältnismässig menschenleeren Oberlichträume hängt die Petitesse von nochmals weiteren neun Tizian-Gemälden. Zudem dreissig Rubens und eine Grosszahl weiterer Preziosen von Caravaggio, Raffael, Rembrandt, Bruegel, Vermeer, van Dyke, Dürer, usw. Dieser Abstecher unterstützt die bisher allein auf Vermutungen beruhende Feststellung, weshalb es in Zürich keine solch imposanten Altmeisterausstellungen gibt: Es ist eine Liga in der Malerei, in der Museen mit höfischer Vorgeschichte wie der Prado, die Uffizien, die Eremitage, der Louvre, die Alte Pinakothek, die Tate London und weitere unter sich spielen. Die Prämisse, wer hat, dem wird gegeben, gilt in der musealen Ausleihpolitik explizit, und in der Schweiz verfügt  allein das Kunstmuseum Basel über derartige Werke. So ist es eine kleine Freude, dass in beiden grossen Wiener Ausstellungen je eines davon hängt. 

 

Der zweite Italiener von Weltrang, mit dem Wien zurzeit lockt, starb vor einhundert Jahren. Doch auch Marc Restellinis Ausstellung in der Albertina über Amedeo Modigliani ist letztlich das Resultat jüngster Forschung und kein alleiniges Abfeiern. Das lange unter den Vorwürfen des Kitschverdachts und der Überschätzung gelitten habende Werk wird in «Modigliani: Revolution des Primitivismus» auf seine Inspiration, Entwicklung und Beeinflussung anderer hin durchleuchtet. Genauso wie Pablo Picasso wurde er als Ausländer in Paris nicht wie alle anderen Künstler und Intellektuellen in die Armee eingezogen, was beim Hurrapatriotismus des Ersten Weltkriegs auch einen Hauch von Schmach umwehen konnte. Die Ausstellung beginnt mit der damals offenbar überwältigenden Erstbegegnung mit aussereuropäischer Kunst. Gegenüber anderen Grossstädten Europas errichtete Paris erst rund ein halbes Jahrhundert später sein erstes ethnographisches Museum, das an der vorletzten Jahrhundertwende eher den Charme einer überfüllten Abstellkammer als eines modernen, freundlichen Museums verströmte. Marc Restellini schreibt: «Der Besuch glich eher einer exotischen Expedition oder einem verstörenden Erlebnis als einem angenehmen Bummel.» Und weiter: «Zu dieser Zeit konzentrierte sich das ästhetische Studium der Avantgarde auf die analytische Erforschung der Figur, vorzugsweise weiblich und nackt.» Die reduzierten Formen der Plastiken ägyptischen, afrikanischen, indischen und fernöstlichen Ursprungs inspirierten Picasso wie Modigliani wie auch Con­stantin Brancusi. Modigliani war auf der Suche nach dem Idealbild der Frau. Damals war das Selbstverständnis des lebenslang kränkelnden Mannes noch das eines Bildhauers, was er 1914 final aufgeben musste, weil es ihn körperlich zu sehr belastete und er sich allein der Malerei widmete. Die Kombination in der Ausstellung aus Skizzen, Zeichnungen, Plastiken von Modigliani, Picasso und Brancusi zum Einstieg lässt die Entwicklung in einer immer strengeren Reduktion der Form erkennbar werden, die aus einer heutigen Perspektive meist sehr einschlägig verortbar sind. Frühpersische, altägyptische und zentralafrikanische Prägungen einer Formensprache sind voneinander ausreichend verschieden, dass ihre jeweilige Inspiration vergleichsweise einfach aus den neu entstandenen Oeuvres erkennbar wird. Bei Modigliani wird aus dieser Reduktion das Wesen für seine Malerei. Die hier ausgestellten Werke sind Augenöffner für das Zusammengehen zweier scheinbar entgegengesetzter Absichten: Die totale Vereinfachung bei zeitgleich alles sagender momentanen Stimmung, ja sogar die soziale Schicht und Herkunft auf Anhieb deutlich machen kann. Die schnippische Dame der Oberschicht, die herablassend und ungeduldig rein mimisch und von der Körperhaltung auszudrücken scheint, «hast Dus endlich?» schaut ganz anders drein als die müde abgerackerte, sicherlich durchfrorene Bedienstete, deren Anflug eines Lächelns das Ende der heutigen Belastung durch ihr Tagwerk zeigt. Offenbar, das hat eine lasterbedingte Zufallsbegegnung vor dem Haus ergeben, sind hier auch die einzigen beiden Picasso-Portraits zu sehen, für die er jemals Modell sass und dies nur für Modigliani. Diese Rauchunterredung war auch der Ursprung für weit weniger publikumsträchtige, dafür genauso emotional überwältigende weitere Stationen.

 

Opfernamen und Nazi-Kunst

Wien, die Stadt mit dem legendären Oberbürgermeister Karl Lueger, auf den der Ausspruch zurückgeht, «wer a Jud ist, bestimme immer noch ich», hat nach über zwanzigjährigem Einsatz des KZ-Überlebenden Kurt Yakov Tutter diesen 9. November (Gedenktag an die Novemberpogrome) erst ein Holocaust-Mahnmal mit sämtlichen 64 440 Namen der in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich eingeweiht. Die Platzwahl (vor der Nationalbank) oder die überschaubare Inspiriertheit der Architektur sind höchstens Nebenschauplätze. Denn beim Durchschreiten dieses kleinen Parks entlang endlos scheinender Namen übermannen einen augenblicklich die Tränen. Genauso zum Niederknien, wenngleich aus einem gänzlich entgegengesetzten emotionalen Motiv.

 

In überschaubarer Distanz dazu widmet sich die Ausstellung «Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien» der jüngsten Forschung über die vom Nationalsozialismus offiziell geförderte Kunst. Das in einem Land, in dem bis zur Waldmann-Affäre 1986 die Österreich-als-Opfer-Geschichtserzählung galt. Ein bedeutender Aktenfund in der Berufsvereinigung der bildenden Künstler Österreichs, wurde vom langjährigen, im letzten Jahr verstorbenen Präsidenten Karl Novak geordnet, digitalisiert und für die Forschung erschlossen. Ingrid Holzschuh und Sabine Plakolm-Forsthuber werteten dieses Archiv der Reichskammer der bildenden Künste Wien zum ersten Mal aus. Trotzdem betonen sie im Katalog: «Eine umfassende Forschung steht noch aus.» Was Ausstellung und Buch aber schon jetzt eindringlich zutage fördern, ist die tatsächlich haufenweise Beweisbarkeit für eine ungeheuerliche und weit verbreitete Begeisterung für die «Befreiung der österrreichischen Kunst von internationalen Einflüssen» (Kultur-Bolschewismus, usw.) in den Förderinstitutionen und den Verbänden, bei denen die Mitgliedschaft zwingend für eine Berufsausübung war. Nicht zuletzt versprechen sich die Wissenschaftlerinnen von diesem Fund auch «wesentliche Rückschlüsse auf die kontrollierenden Tätigkeiten und bürokratischen Abläufe der Berliner Zentrale, deren Aktenbestände weitgehend verloren sind». Mit zum Groteskesten gehört das Gipsmodell für «Der gute Kamerad» von Wilhelm Frass. Zwei muskulöse stattliche Männer, einer behelmt und mit Cape, der andere mit erhobenem Schwert, halten sich einander vielsagend in die Augen schauend bei der Hand – und sind darüber hinaus splitternackt. Homoerotischer gehts nicht. Als auf dem Heimweg über die Mauern des Volksgartens aus zahllosen wütenden Kehlen chorische «L-ü-g-e-n-­
p-r-e-s­­-s-e»-Rufe hallen, durchzuckt einen wieder eine Schauer. 

 

Etwas fürs Gemüt muss her. Wien? Hm… Staatsoper. Das sogenannte Enfant terrible der Opernwelt Calixto Bieto inszeniert eine «Carmen», in der sich der Bogen von Schönheit und Schrecken ein weiteres Mal schliesst und zu etwas grösserem Dritten wird. Der ebenso faschistische Francismus wird symbolisch und tosend effektvoll nach dem dritten Akt gestürzt und die Roma, Sinti und Jenischen (alias Z-Wort) erfahren eine aufrichtige Würdigung. Allerdings sind die wunderschönen Arien wie «l’amour est un oiseau rebelle» aus der Kehle der Mezzosopranistin Clémentine Margaine tatsächlich nur zur Hälfte schön dramatisch und herzberührend. Die andere Hälfte teilt sich die inhaltliche Befremdung über den gefeierten finalen Femizid durch Freddie De Tommaso als Don José. Bouleversant, heisst diese Regung einer Hin- und Hergerissenheit auf Französisch so schön treffend. Der nachdenklich-verträumt den disparaten Gefühlseindrücken nachhängende Blick entdeckt auf dem Heimweg die offensichtlichen Überreste einer unterdessen stattgefunden haben müssenden Anti-Femizid-Demonstration auf dem Trottoir. Ein paar Kreidestriche bringens auf den Punkt: «Niemand tötet aus Liebe.»

 

«Tizians Frauenbild. Schönheit – Liebe – Poesie», bis 16.1.22, Kunsthistorisches Museum, Wien. Katalog bei Skira editore.
«Modigliani: Revolution des Primitivismus», bis 9.1.22, Albertina, Wien. Katalog bei Hirmer.
«Auf Linie. NS-Kunstpolitik in Wien», bis 24.4.22, Wienmuseum MUSA, Wien. Katalog bei Birkhäuser. www.shoah-namensmauern-wien.at

 

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