«Wir fordern eine Demokratisierung des Care-Systems»

Roxane Steiger

 

Am 23. und 24. Oktober findet die Aktionskonferenz «Für Widerstand sorgen» in der Roten Fabrik statt. Was die OrganisatorInnen damit bewirken möchten und wieso es ein gerechteres Care-System braucht, erklärt Neomi Grieder im Gespräch mit Roxane Steiger.

 

Sie sind Teil des OK der Aktionskonferenz zu Care-Arbeit, die am 22. und 23. Oktober in Zürich in der Roten Fabrik stattfindet (siehe Infobox). Was ist die Entstehungsgeschichte dieser Konferenz?

Neomi Grieder: Wir wurden von einer Aktionskonferenz in Berlin inspiriert, die 2014 ebenfalls zu diesem Thema stattgefunden hat. Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hat ein Buch geschrieben, welches die Ergebnisse dieser Konferenz zusammenfasst, die vertretenen Gruppierungen vorstellt und aufzeigt, wie die aus der Konferenz entstandene Vernetzung weiterging. Das Netzwerk Care Revolution, das diese Konferenz durchgeführt hat, besteht immer noch. Diese Erkenntnisse haben uns zur Inspiration gedient, da wir eine Zusammenarbeit von verschiedenen Gruppen und Menschen anstossen wollten. So haben sich zuerst einige Personen des feministischen Streikkollektives sowie des Kollektivs «Care Work Unite» zusammengetan und angefangen, weitere Personen anzufragen. Gemeinsam haben wir darüber nachgedacht, wie dieses Projekt aussehen könnte und haben immer mehr Menschen dazu geholt.

 

Das Ziel der Konferenz ist, die Care-Krise aus «feministisch intersektionaler Perspektive als ein dem Kapitalismus inhärentes Problem» zu politisieren. Was heisst es, die Care-Krise aus intersektionaler Perspektive zu beleuchten? Und was hat das mit dem Kapitalismus zu tun?

Der Begriff Care-Krise bezeichnet generell das Problem, dass Care-Arbeit nicht als der zentrale Pfeiler in unserer Gesellschaft anerkannt wird, der er eigentlich ist. Care-Arbeit ist völlig unterfinanziert, und es wird viel zu viel Gratisarbeit geleistet, die nicht anerkannt wird. Das kapitalistische Wirtschaftssystem baut auf dieser Arbeit auf. Da diese Arbeit aber gleichzeitig nicht anerkannt und nicht wahrgenommen wird, erhalten auch zwischenmenschliche Verbindungen weniger Beachtung, als sie haben sollten. Die Care-Krise intersektional zu beleuchten heisst, dass man die verschiedenen Formen von Care-Arbeit berücksichtigt, die geleistet werden. Es gibt bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, die mit der Sorge um Menschen zu tun hat, aber auch Care-Arbeit, die eine andere Art von Sorge umfasst, wie zum Beispiel Gebäudereinigung. Der andere intersektionale Aspekt ist, dass nicht nur das Patriarchat ausmacht, dass grösstenteils weiblich kategorisierte Personen diese Arbeit leisten. Es spielen zum Beispiel auch rassistische Strukturen mit rein. Es geht aber auch darum, wer Zugang hat, Pflege zu erhalten. Dafür haben wir zum Beispiel einen Workshop mit Women in Exile, der thematisiert, wie geflüchtete Frauen sich organisieren, um Zugang zum Care-System und den entsprechenden Leistungen zu erhalten. Das heisst, man muss aus intersektionaler Perspektive verschiedene Diskriminierungsstrukturen zusammendenken, um die aktuelle Situation von Care-Arbeit zu verstehen, wie auch, weshalb für unterschiedliche Menschen innerhalb dieses Systems verschiedene Pro­bleme entstehen.

 

Sie sagen, dass Care-Arbeit auch Gebäudereinigung umfasst. Wie definieren Sie Care-Arbeit?

Wir haben einen sehr breiten Care-Begriff und versuchen diesen auch so anzuwenden. Deshalb haben wir an der Konferenz zum Beispiel auch die Kooperative Autonomía, eine Kooperative für Reinigungskräfte, eingeladen. Wir haben auch das Sex Workers Collective eingeladen, um darüber zu diskutieren, wie Sexarbeit auch als Care-Arbeit begriffen werden kann. Wir nehmen alles rein, was damit zu tun hat, dass Sorge für andere geleistet wird. Das kann die Pflege von Menschen aber auch die Sorge um sich selber sein, indem man sich zum Beispiel nicht völlig im Aktivismus aufgibt. Es kann auch die politische Organisierung am Arbeitsplatz sein, zum Beispiel von Pflegearbeitenden eines Spitals, die sich organisieren, damit die Sorgearbeit besser geleistet werden kann.

 

Ihr sprecht von einer Care-Krise. Wieso?

Es ist nicht eine Krise im Sinn, dass sie nur jetzt und früher nicht bestanden hat. Wir sprechen von einer Krise, die sich seit Jahrhunderten aufbaut. Zum Beispiel wird die Arbeit von Pflegenden im Spital, die eigentlich Sorgearbeit sein sollte, aufgebrochen in einzelne kleine Handlungen. Nur diese dürfen stattfinden. Das macht meiner Meinung nach den ganzen Sinn von Sorgearbeit zunichte. Denn Sorge besteht nicht nur daraus, dass man jemandem einen Verband wechselt, sondern, dass man mit der Person noch sprechen kann, oder dass die Person sich an diesem Ort und in dieser Situation wohlfühlt. Wenn wir das grosse Bild anschauen, hat das zur Folge, dass wir als Gesellschaft so aufgestellt sind, als gäbe es diese Arbeit nicht und als brauche es sie nicht. Dann fehlt uns ein Fundament.

 

Was ist die Rolle von Care-Arbeit für Wirtschaft und Gesellschaft?

Klassische produktive Arbeit ist zum Beispiel die Herstellung von Stühlen in einer Fa­brik. Jetzt muss aber dafür gesorgt werden, dass die ArbeiterInnen in der Stuhlfabrik diese Arbeit leisten können. Da setzt der Begriff der reproduktiven Arbeit an. Dieser beschreibt die ganze Arbeit, die die ArbeiterInnen dazu befähigt, Stühle herzustellen. Einerseits, dass es diese ArbeiterInnen überhaupt gibt, also Reproduktion im klassischen Sinn. Andererseits muss es eine Umgebung geben, in der man ernährt wird oder gesund gepflegt wird, wenn man krank ist. Das heisst, das kapitalistische System braucht diese reproduktive Arbeit, damit Menschen darin leisten können. Kapitalismus braucht also dieses Fundament, das menschliche Arbeitskraft immer wieder herstellt. Je günstiger dieses Fundament ist, desto mehr Profit kann man aus der produktiven Arbeit der ArbeiterInnen generieren. Wenn es teuer wäre, den Menschen am Leben zu halten, würde es sich ja nicht lohnen, diese Person zu zahlen, da sie dann zu teuer wäre.

 

Wer ist von dieser Krise betroffen?

Ich würde sagen alle. Einerseits betroffen im Sinn, dass diese Arbeit jener, die diese Arbeit leisten, nicht wertgeschätzt wird. Ein Beispiel für diese mangelnde Wertschätzung ist, wenn man als Mutter das Leben lang gearbeitet, Kinder grossgezogen und den Haushalt geschmissen hat, aber im Alter nicht von seiner AHV-Rente leben kann. Ein weiteres Beispiel ist, dass für einzelne Pflegeleistungen immer mehr Papierarbeit geleistet werden muss. Pflege erhaltende und pflegende Menschen müssen um die einzelnen Leistungen kämpfen, nicht mehr das Benötigen von Pflege, sondern das Kostensparen steht im Vordergrund, es leidet also auch die Qualität von Care-Arbeit.

 

Wer ist alles an der Konferenz vertreten?

Wir hätten so viele mehr anfragen müssen, dass wir eine zweite oder dritte Konferenz planen müssten. Für diese Konferenz ist zum Beispiel das Netzwerk Respekt@VPOD eingeladen. Das ist ein Netzwerk von Live-In Care-Arbeitenden, hauptsächlich aus Osteuropa, die es in der Schweiz, trotz schwieriger Voraussetzungen als Angestellte in Privathaushalten, geschafft haben, sich zu organisieren. Wir haben weitere Gruppen, die sich für bessere Arbeitsbedingungen in ihrem Job selber organisiert haben wie die Kooperative Autonomía, ein Kollektiv aus Reinigungskräften. Mit Avanti Donne haben wir eine Organisation, die sich aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen mit Care-Arbeit auseinandersetzt. Wir haben auch einen Workshop, der behandelt, wie man im Aktivismus nicht ausbrennt und Menschen mit psychischen Erkrankungen trotzdem an Aktivismus partizipieren können, ohne sich selber kaputt zu machen. Wir haben auch einen Aktivisten dabei, der die Parallelen und Zusammenhänge zwischen der Klima- und Care-Krise aufzeigt. Wir haben auch zwei Gross-WGs, die zusammen darüber sprechen werden, wie man ausserhalb des Kleinfamilienbilds Care-Arbeit, dort wo man wohnt, aufstellen kann. Ein Mütter- und Elternkollektiv haben sich um die aktivistische Rolle der Mutter organisiert – also wie man als Mutter trotzdem an Aktivismus partizipieren kann. Zudem wird es einen Workshop zur AHV aus feministischer Perspektive geben. Wir haben versucht, das Programm möglichst vielfältig zu gestalten. 

 

Für wen ist die Konferenz offen?

Für alle. Wir wünschen uns natürlich, dass es aus unserer Bubble herausdringt und dass diese Menschen erreicht werden, die spezifisch damit im Alltag zu tun haben. Also Mütter, Väter, Eltern, Kinderbetreuende, Menschen mit Behinderungen oder Pflegende. Wir wollen, dass sich die Menschen an dieser Konferenz vernetzen, Ideen austauschen und sich idealerweise für eine bessere Gestaltung dieser Arbeit einsetzen.

 

An der Konferenz wollt ihr auch unterschiedliche Formen des Widerstands auf dem Bereich aufzeigen. Welche?

Wir wollen nicht nur an Vorträgen mit dem Finger darauf zeigen, was alles falsch läuft. Wir wollen mit den Gruppen, die wir eingeladen haben aufzeigen, dass es bereits Menschen gibt, die sich organisiert haben, um Sachen zu verändern. Sie sollen Optionen aufzeigen, wie man sich zu Hause, am Arbeitsplatz, als Eltern oder als Betreuende anders einrichten und sich zusammenschliessen kann, damit die Care-Arbeit geleistet und erhalten werden kann. Wir wollen zeigen, dass es bereits jetzt Möglichkeiten gibt, um diese Situation zu verändern. Wir wollen Mut machen, das auch zu wagen.

 

Wie sieht denn eurer Meinung nach ein gerechteres Care-System aus?

Ich glaube, ein gerechteres Care-System muss die Bedürfnisse von Menschen ins Zentrum stellen. Es muss darauf aufbauen, dass Menschen am Entscheid partizipieren können, wie die Care-Arbeit aussehen soll, die sie erhalten oder leisten. Wir fordern also eine Demokratisierung des Care-Systems, indem alle mehr Mitbestimmungsrecht haben und verschiedene Diskriminierungsstrukturen mitgedacht werden sollen.

 

Was heisst das konkret? Könnt ihr daraus politische Forderungen ableiten?

Weniger im klassischen Sinn eines Forderungskatalogs. Wir schliessen beide Tage mit einem Podium ab. Das Podium am Sonntag wird versuchen zusammenzufassen, wo man hin kann mit dem, was man an dieser Konferenz gelernt hat. Eine Forderung, die wir uns selber als Menschen, die an dieser Konferenz teilgenommen haben, stellen wollen ist, dass man das Gelernte mit sich nimmt und sich versucht zu organisieren. Konkrete Forderungen wie mehr Lohn für Pflegekräfte oder bessere Bedingungen in der AHV müssen wir nicht an dieser Konferenz formulieren. Sie wurden erstens schon formuliert und es braucht jetzt vor allem Menschen, die sich dafür einsetzen, Utopien auszubreiten und auszuleben und diese möglich machen.

 

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