Wenn Strafgefangene Kunst machen

Kunsthandwerk hilft Strafgefangenen bei der Resozialisierung. Weshalb das so ist, erklärt Melanie Wegel*, Dozentin an der ZHAW Soziale Arbeit im Gespräch mit Stefan Müller.

 

Stefan Müller

 

Frau Wegel, Kunst und Strafvollzug verbindet man als Aussenstehender nicht auf Anhieb. Ein Widerspruch?
Melanie Wegel: Nein, ganz und gar nicht. Es sind ja besondere Menschen, die im Gefängnis sitzen, die in Vielem gescheitert sind und deren Geschichte sich stark von einer Normalbiografie unterscheidet. Kunst und Kunsthandwerk bilden für diese Menschen erstmals die Möglichkeit, an die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten herangeführt und aus dem ewigen Scheitern herausgelockt zu werden.

 

Sie befassen sich schon länger mit Kunst und Strafvollzug. Wie kam es dazu?
Angefangen haben wir mit einem Theaterstück, das wir wissenschaftlich begleitet haben. In der Strafanstalt Lenzburg fungierten Gefangene selbst als Schauspieler. Das Stück war Wilhelm Tell – jährlich wird in Lenzburg ein Theaterstück als Freizeitangebot hinter den Mauern auf die Bühne gebracht. Wir fanden das Thema spannend, weil es darin um Justiz und Bestrafung ging. Anschliessend an die Aufführung haben wir die Schauspieler und die Zuschauer befragt und haben sie dabei mit den Inhalten von Wilhelm Tell konfrontiert. Sie durften am Schluss darüber abstimmen, ob Wilhelm Tell richtig gehandelt hat oder nicht. Die eine Hälfte der Befragten befand «Ja», die andere «Nein».

 

Und wie reagierten Sie darauf?
Wir gaben den Gefangenen zurück: «Aber Tell hätte sich nur vor dem Hut verneigen müssen und deshalb nicht auf seinen Sohn schiessen müssen…» Nach kurzem Nachdenken stimmte man dieser Überlegung mit der Begründung zu: Im Stück sei die Ehre höher bewertet als die Vaterliebe. Daraufhin wurde von den Schauspielern wie vom Publikum die eigene Straffälligkeit in diesem Kontext reflektiert.

 

Zu was für einer Schlussfolgerung kamen Sie nach diesem Theaterprojekt?
Wir empfahlen der Gefängnisleitung, mehr daraus zu machen als nur ein Freizeitangebot. Dass man Theaterstücke auch als Reflexion zur eigenen Delinquenz nutzen könnte. Ich glaube allerdings nicht, dass dies mittlerweile gemacht wird. Denn dies würde auch wieder mehr Personal erfordern, um hinterher in Gruppen das Theaterstück zu reflektieren. Generell gilt immer, wenn Theaterprojekte gemacht werden – egal ob im Strafvollzug oder in der Schule – müssen sie vor- und nachbereitet werden, um pädagogisch etwas zu erreichen. Sonst ist es nur Unterhaltung und hat keine präventive Wirkung. Theater ist übrigens nur eine Form von Kunst, wie sie in den Schweizer Gefängnissen zu finden ist.

 

Welches Ziel verfolgt man mit der Kunst im Strafvollzug?
Wenn Strafgefangene entlassen werden – auch solche, die lebenslang haben, kommen wieder raus – ist der beste Schutz für die Bevölkerung, dass sie gut integriert sind. Und das passiert vor allem über die Arbeit. Doch der erste Arbeitsmarkt ist für Strafentlassene meist gesperrt: Viele habe abgebrochene Ausbildungen oder gar keine. Sie werden zwar im Strafvollzug qualifiziert, aber den Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ist dennoch schwierig. Im Rahmen eines Nationalfondsprojektes waren wir in über 30 Gefängnissen. Für die Inhaftierten ist eine Tagesstruktur in Form einer Beschäftigung zentral, zumal im Schweizer Strafvollzug auch eine Arbeitspflicht besteht, bei der ganz unterschiedliche Produkte entstehen, vielfach auch Kunsthandwerk. Gleichzeitig gibt es an der ZHAW den Schwerpunkt gesellschaftliche Integration. Am Departement Soziale Arbeit wurde sodann eine Retraite durchgeführt mit dem Ziel, kleine Projekte auszudenken, die man schnell umsetzen kann. Arbeitsintegration hat sich als Schwerpunkt herauskristallisiert. So hatten wir die Idee, dass wir die Produkte aus dem Strafvollzug einmal am Ort der Sozialen Arbeit zeigen könnten. Es kam zur Ausstellung im letzten Jahr auf dem Toni-Areal. Der Titel lautete: «Kunst und Kunsthandwerk aus dem Strafvollzug im Toni». Die Idee dahinter war, dass wir der Gesellschaft zeigen wollten: «Strafgefangene können mehr als bügeln», was meint: Kunst produzieren ist mehr als nur eine Freizeitbeschäftigung. Es ist kreativ hochwertiges Arbeiten. Die Häftlinge eignen sich neue Qualifikationen an – und das ist ein Mehrwert. Ein Schauspieler der Wilhelm-Tell-Aufführung in Lenzburg brachte es schön auf den Punkt: «Wir können denen da draussen zeigen, dass wir mehr sind als bloss Inhaftierte, dass wir Menschen sind, die etwas können.»

 

Hatten Sie für die Ausstellung eine künstlerische Begleitung?
Ja, wir holten eine Künstlerin ins Boot. Sie war für das Arrangement der Ausstellung zuständig. Von vier Gefängnissen haben wir Produkte ausgewählt und gekauft: vom Massnahmezentrum Uitikon, von den Strafanstalten Pöschwies und Saxerriet. Die Ausstellung war verbunden mit einem Symposium. Es gab zwei Vorträge: zu Kunst im Strafvollzug sowie Arbeitsintegration im Strafvollzug. Die Veranstaltung stiess auf breites, überwiegend positives Interesse. Wie zum Beispiel der Vater eines Häftlings, der total stolz auf seinen Sohn war. Aber ein Kommentar stimmte mich nachdenklich: «Normale Künstler (ich habe die genauen Bezeichnung nicht verstanden) müssen viele Semester Kunst studieren – und diese Menschen bekommen einfach so eine Plattform zur Verfügung gestellt.» Gelegentliches Unverständnis begegnet einem schon, im Sinne von: «Die sitzen im Gefängnis – und wieso dürfen sie Fussball spielen oder Kunst machen?»

 

Die Frage also nach dem Sinn des Strafvollzugs: Lässt öffentliche Knastkunst nicht die Strafdelikte der Häftlinge in den Hintergrund rücken oder wirkt gar verharmlosend?
Das finde ich nicht. In diesem Zusammenhang kann ich jedoch nur das Strafvollzugsgesetz zitieren: «Die Aufgabe vom Strafvollzug ist, dass die Lebensbedingungen möglichst denjenigen in Freiheit gleichen. Die Häftlinge haben ein Anrecht auf Tagesstruktur.» Diese Menschen sollen also nicht einfach weggesperrt werden, sondern auch gefördert werden. Überrascht haben mich auch die Medienberichte über die Vernissage, etwa im ‹20 Minuten›: überwiegend positive Reaktionen. In einem Kommentar wurde sogar halb ernst gefragt: Warum sind eigentlich die Künstler nicht dabei? Die Ausstellung weckte sicher die Neugierde: Was ist hinter diesen Mauern? Können die dort überhaupt etwas?

 

Wie muss man sich das künstlerische Schaffen hinter Mauern vorstellen?
Viele Strafeinrichtungen haben inzwischen einen künstlerischen Bereich, der aber sehr unterschiedlich gestaltet ist. Meist Kunsthandwerk, das sich verkaufen lässt. Denn Aufträge für die vielen Gefängniswerkstätten, sind nicht immer leicht zu beschaffen. Pöschwies hat extra einen Verkaufsladen, wo Dinge wie Kerzenständer oder Weihnachtskränze zu haben sind. Geleitet werden die Angebote durch Arbeitsagogen, Kunsttherapeuten oder Künstlern. Zum Beispiel das Kunstatelier in der Pöschwies leitet eine Künstlerin. Das Angebot wird als Freizeitangebot wie Fussballspiel oder Krafttraining genutzt. Die Künstlerin hilft den Häftlingen bei den Techniken, bei der Umsetzung – die Wahl des Motivs ist frei. Es werden beispielsweise Themen bearbeitet wie Träume, Freizeit oder Heimat. Generell können die Häftlinge ihre Ideen in den Kunstbereichen frei einbringen. Im Massnahmezentrum Uitikon hingegen gibt ein Designer die Ideen und die Umsetzung vor, mit Programmen und Prospekten. Die Grundidee dabei ist das «Abcycling», die Wiederverarbeitung von Gebrauchsgegenständen, die ausrangiert sind. Verwendung finden auch Strassenschilder wie Einbahntafeln, woraus Bistrotische oder Hocker entstehen. Es sind alles Verkaufsprodukte, die man ab Katalog erwerben kann. Angeboten wird in dieser Einrichtung zusätzlich eine eigentliche Kunsttherapie, in der die eigenen Delikte bearbeitet werden, was natürlich eine ganz andere Reichweite hat. Nochmals anders sieht es in Saxerriet aus. Mit Kunst beschäftigt man sich hier beispielsweise in der therapeutischen Individualförderung. Diese richtet sich an Personen, die Probleme haben, sich in den Werkstätten einzufinden. Der Leiter hat hier ebenfalls einen künstlerischen Hintergrund. Er lässt den Häftlingen grossen Freiraum – so hat einer der Häftlinge beispielsweise das Motiv eines Ausserirdischen gewählt. Irre, handwerklich und kunsthandwerklich hochwertige Sachen sind entstanden.

 

… zum Beispiel?
Ein Häftling hat mit einem Klebeband die Umrisse der Zelle abgeklebt. Dann hat er 650 Figuren aus Karton hergestellt, die einen Mann in verschiedenen Positionen darstellen – sitzend, stehend, gehend oder liegend. Das Werk soll zeigen, wie man sich in einer Zelle mit beschränktem Raum aufhält, wo man liegt, geht, steht oder auch läuft. Ein anderer Häftling hat ein Triptychon, ein dreiteiliges Kunstwerk aus Holz gefräst: die Zeit vor der Delinquenz, die Haft und die Träume, die er sich für später vorstellt. Bei der bildenden Kunst steht der Verkaufsgedanke nicht im Vordergrund. Die Ideen stammen von den Häftlingen selbst, die verwendeten Materialien sind beliebig. Es werden nahezu alle Materialien verarbeitet: von Holz, Ton, Betonguss, Papier, Karton oder Pappmaché sowie alle Arten von Farben wie Acryl oder Öl. Auch die Methoden sind meist nicht vorgegeben. Die Häftlinge erhalten dabei vor allem bei der Technik Unterstützung; wie sie es schaffen können, etwas auf Papier zu bringen. Die Individualtherapie in Saxerriet dagegen will mehr erreichen. Die Häftlinge sollen lernen, dass wenn man im Leben nicht weiterkommt, sich Rat holt und nicht bei der ersten Hürde aufgibt. Ziel ist es, dran zu bleiben und das Produkt zu Ende zu bringen. Und das ist gerade bei Menschen wichtig, die in ihrer Biografie oft wutentbrannt Dinge aufgegeben, Ausbildungen abgebrochen haben.

 

Was sehen die künstlerischen «Produkte» in den Gefängnissen der Schweiz aus?
Ebenfalls sehr unterschiedlich. In Solothurn machen sie zum Beispiel Wetterfahnen mit dem Emblem von Fussballvereinen. Im Massnahmezentrum Uitikon entstehen aus alten Skibindungen Garderoben oder aus Skistöcken Fonduegabeln. Das Massnahmezentrum hat auch schon einen Preis an Design-Ausstellungen gewonnen. Häftlinge in einem Westschweizer Gefängnis stellen Kinderhocker in Form von Tierkörpern her – etwa Zebras mit Fell verkleidet. Aus Muffin-Förmchen entstehen Deckenlampen. Tischdecken werden gewoben. Andernorts verwandelt man Altmaterialien in Handtaschen. Wie schon gesagt, kann an manchen Orten auch Theater gespielt werden, gelegentlich sogar zusammen mit dem Personal der Strafanstalt. In der Pöschwies wirken Häftlinge sogar in einer Rap-Gruppe mit. Die Vielfalt ist unglaublich gross.

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