Warum Nichtwähler nicht wählen

Die letzten Wahlumfragen sind publiziert, die letzten Flyer werden verteilt. Der Wahlkampf neigt sich dem Ende zu. Wenn sich das Resultat der Umfragen bewahrheitet, dann kann die SVP zulegen, die Mitte und die FDP kämpfen um den dritten Platz, die Grünen verlieren stark, die GLP leicht und die SP kann sich dafür über leichte Zugewinne freuen. Das Problem: Die SP kann laut Umfragen nur einen Teil der Stimmen kompensieren, die den Grünen verlustig gehen. Wohin gehen also die Stimmen? Zu einem nicht unwesentlichen Teil an die Nichtwähler:innen. Selbst wenn die SP alle Stimmen gewinnt, welche die Grünen verlieren, wäre es nur ein Nullsummenspiel. Das linksgrüne Lager wird nicht grösser. Es liegt auf der Hand: Wo das Potenzial liegt, wenn man den Kuchen vergrössern und nicht bloss neu verteilen will. Bei jenen also, die nicht wählen gehen.

Wer sind also diese Nichtwählenden und wie ticken sie? Dazu gibt es ganz unterschiedliche Befunde und Thesen. Die eine ist, dass sich die Nichtwähler:innen kaum von den Wähler:innen unterscheiden in ihrer Wahlpräferenz. Dies schreiben die Politolog:innen Adrian Vatter und Rahel Freiburghaus in ihrer Wahlkolumne im ‹Tages-Anzeiger› mit Verweis auf die Wahlauswertungsdaten der Selects-Studien. Die Schweiz sei auch wegen der direkten Demokratie und dem Konkordanzsystem ein Sonderfall. Wahlen haben keine oder nur geringe Auswirkungen auf die Regierungskoalition, es ist nicht wie in einem System mit Regierung und Opposition, wo eine Wahl alles verändern kann. Und die Stimmbevölkerung kann in Abstimmungen ihre Haltung zu Sachvorlagen ausdrücken und damit in wesentlichen Fragen mitbestimmen und dies nicht nur alle vier Jahre bei den Wahlen. 2019 lag die Wahlbeteiligung bei 45,1 Prozent. Als 2021 über das Covid-Gesetz abgestimmt wurde, lag die Stimmbeteiligung bei 65,75 Prozent. Gewisse Leute nehmen also situativ an Abstimmungen teil, die bei den Wahlen eher der Urne fern bleiben. 

Die beiden Politologen Matthias Fatke und Markus Freitag identifizieren 2015 verschiedene Typen von Nichtwählenden. Die grösste Gruppe innerhalb der Nichtwählenden seien die Zufriedenen, aber Desinteressierten. Diese sind zufrieden mit der Demokratie und haben Vertrauen in die Institutionen, aber sie interessieren sich einfach nicht gross für Politik. Im Gegensatz zu den Desinformierten sind die Inkompetenten unzufrieden mit der Politik. Sie haben auch im Vergleich ein tieferes Bildungsniveau und tieferes Einkommen. Als Grund, nicht wählen zu gehen, geben sie an, dass sie Politik als zu kompliziert empfinden und die Kandidierenden nicht kennen. Ähnliche Gründe gibt die nächste Gruppe, die Fatke und Freitag als die sozial isolierten Nichtwählenden bezeichnet, an. Sie kennen die Kandidierenden nicht und haben wenig Vertrauen in die Politik. Zudem führen sie kaum politische Diskussionen in einem sozialen Umfeld. Die nächste Gruppe sind die Politikverdrossenen. Sie haben wenig Interesse, konsumieren keine Nachrichten und wissen auch wenig über politische Zusammenhänge. Aber sie haben hohe Unzufriedenheit mit der Demokratie und ein grosses Misstrauen den politischen Institutionen gegenüber. Dann folgt die Gruppe, die Vatter und Freiburghaus angesprochen haben: Nämlich die abstimmenden Nichtwähler. Diese sind politisch interessiert, finden aber Abstimmungen schlicht wichtiger als Wahlen. Die kleinste Gruppe innerhalb der Nichtwählenden nennen Fakte und Freitag die unkonventionell Partizipierenden. Diese sind politisch interessiert und aktiv, aber nicht innerhalb des konventionellen politischen Systems, also beispielsweise in Bürgerinitiativen. Fatke und Freitag konstatieren daraus, dass nicht alle Nichtwählenden politverdrossen sind, sondern dass Wahlabstinenz in gewissen Fällen auch ein Ausdruck der Zufriedenheit sein kann. 

Mit dem unbekannten Wesen des Nichtwählers setzten sich auch Studien der deutschen Bertelsmann-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung auseinander. Laut der Studie der Bertelsmann-Stiftung seien es vor allem sozial Benachteiligte, die ihr Wahlrecht nicht ausübten. Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) hat zwei detaillierte Studien zu den Einstellungen von Nichtwählenden durchgeführt. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob mit den Studien auch die tatsächlichen Nichtwählenden erreicht werden. Zum einen gibt es jene, die zwar angeben, dass sie wählen, aber es dann nicht wirklich tun. Jeder, der schon vor den Wahlen Flyer verteilt hat, kann bestätigen, dass die behauptete Wahlbeteiligung auf der Strasse niemals mit der echten übereinstimmt. Zum zweiten sind jene Nichtwählenden, die aus Abneigung gegen das politische System wahlabstinent bleiben, wohl weniger bereit, an einer Wahlumfrage teilzunehmen. Zudem nehmen auch sozial schlechter gestellte Menschen seltener an Umfragen teil als Gutverdienende. Die beiden FES-Studien haben daher zusätzlich zu jenen, die sagen, dass sie nicht an der Wahl teilnehmen, auch die Unentschlossenen untersucht, also jene, die noch nicht wissen, ob sie wählen werden. Interessanterweise unterschieden sich in den FES-Studien die erklärten Nichtwähler und die Unentschlossenen sozioökonomisch nicht so entscheidend von den Wähler:innen, auch wenn der Anteil an Personen mit hohem Einkommen kleiner ist. Auch der Anteil prekär Beschäftigter und Arbeitsloser ist nicht wesentlich grösser. Die Nichtwählenden und Unentschlossenen sind im Schnitt etwas jünger, sie sind eher weiblich und sind eher konfessionslos.  Ein grosser Unterschied zu den Wählenden besteht in der Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Perspektive und jener des Landes. Hier sind wesentlich mehr der Meinung, dass diese schlecht ist und mehr fühlen sich durch die wirtschaftliche Lage bedroht. Die Meinung der Nichtwähler:innen über die Politik ist nicht sonderlich positiv: Sie haben mehrheitlich nicht das Gefühl, dass sie einen Einfluss hätten, dass die Politik Probleme lösen kann und glauben, dass Politiker:innen vor allem auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Das ist auch bei den Unentschlossenen so, aber in einem etwas geringerem Ausmass. Interessanterweise ist dennoch die Mehrheit der Meinung, dass die deutsche Demokratie im Grossen und Ganzen gut funktioniert. Die FES-Studien stellten auch eine grössere Affinität zu rechtspopulistischen Einstellungen fest, wie beispielsweise Misstrauen gegen Demokratie oder Fremdenfeindlichkeit oder Zuspruch zu Law-and-Order. Die Nichtwähler:innen neigen auch eher zu neoliberalen Haltungen, wie einer Zustimmung zu Aussagen, wonach jemand selber schuld ist, der sich zuwenig gut verkaufen kann oder wer zu wenig wagt. Das heisst, sie setzen mehr auf den Wettbewerb zwischen Individuen, auf Erfolg durch Selbstoptimierung sowie auf eine ökonomistische Werthaltung, die Menschen nach ihrer Nützlichkeit bewertet. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Nichtwähler:innen am ehsten der AfD zusprechen und diese dort tatsächlich Wählerpotenzial hat.

Ich habe jahrelang nicht verstanden, warum man nicht wählen geht, warum man sich nicht für Politik interessiert. In der Häufung der Krisen und schlechten Nachrichten kann ich aber manchmal den Wunsch verstehen, sich aus dieser schlechten Welt in eine heile und vor allem apolitische Welt zu flüchten. Ohne Glauben und Hoffnung, dass Probleme gelöst und eine bessere Zukunft möglich ist, kann man auch aufhören, Politik zu machen. Nur wird es dann aber ganz garantiert nicht besser.   

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