Velorouten im Faktencheck

Einen erfreulicheren Grund, an dieser Stelle für die Chefin einzuspringen, gabs in der Geschichte des P.S. noch nie: Am 24. Januar ist Min Li Marti Mutter geworden; sie und Tochter Ziva Lin seien wohlauf, meldete der stolze Vater Balthasar Glättli. Wir gratulieren!

 

Weniger erfreulich sind hingegen die Informationen, die Pro Velo Kanton Zürich zusammengetragen und letzte Woche veröffentlicht hat. Der Zürcher Stadtrat gebe sich gerne velofreundlich und «lobpreist regelmässig seine Erfolge in der Veloförderung», hält Pro Velo fest, doch dieses «Eigenlob» halte einer Überprüfung nicht stand.

 

Als Grundlage für diese Überprüfung, genauer einen Velorouten-Faktencheck, diente Pro Velo die Motion, welche die damaligen Gemeinderäte und heutigen Stadträte André Odermatt (SP) und Daniel Leupi (Grüne) am 25. November 2009 eingereicht haben. Sie forderten ein durchgehendes Netz von Velorouten. In seiner Vorlage vom 18. Dezember 2013 hielt der Stadtrat fest, seit Einreichung der Motion seien das Verkehrskonzept Innenstadt sowie der Masterplan Velo beschlossen worden. Die meisten in der Motion geforderten Routen seien im Konzept und/oder im Masterplan enthalten; deshalb könne sie abgeschrieben werden. Zur Illustration dieser Einschätzung lieferte der Stadtrat eine Tabelle, die aufzeigen sollte, «dass auf vielen in der Motion geforderten Routenabschnitten bereits Bauprojekte in Erarbeitung sind oder vor der Realisierung stehen. (…) In den meisten Fällen sind sie nach heutiger Planung vor 2020 abgeschlossen». Am 2. April 2014 erfüllte der Gemeinderat den Wunsch des Stadtrats und schrieb die Motion ab.

 

Besagte Tabelle hat Pro Velo Kanton Zürich nun ausgegraben und integral kopiert, also mitsamt der Spalte «voraussichtlicher Realisierungszeitraum», und danach mal eben in der Realität nachgeschaut, wie es denn so steht mit der Realisierung. Da war zum Beispiel die Rämistrasse erwähnt, das geplante Vorhaben lautete «teilweise Velo-streifen talwärts, bergwärts Fuss-/Veloweg», als voraussichtlicher Realisierungszeitraum war 2015/16 genannt. Und weiter: «Talstrasse, Velostreifen, 2014/15». Oder auch: «Weinbergstrasse, Machbarkeitsstudie für Veloförderung in Bearbeitung». In Bearbeitung? «Keine konkreten Pläne bekannt», schreibt Pro Velo anno 2018.

 

Zusammengefasst: Von den 26 Massnahmen sind gut vier Jahre später gerade mal vier realisiert. Zwei davon, nämlich die neue Veloverbindung am Central und der Veloweg im Seilergraben, «schlossen Lücken im Routennetz oder brachten deutliche Verbesserungen», hält Pro Velo fest. Die andern beiden, Tempo 30 in der Löwenstrasse und neuer Radstreifen am Bellevue, lösten «höchstens kleine Probleme. So war in der Löwenstrasse nie das Tempo das Problem, sondern die ein- und ausparkenden oder auf freie Parkplätze wartenden Autos». Bei vier weiteren Projekten für General-Guisan-Quai/Mythenquai, Utoquai, Bürkliplatz und Kasernenstrasse liegen «wenigstens halbwegs brauchbare Pläne vor, die Realisierung lässt jedoch auf sich warten». Beim «überwältigenden Rest» jedoch gibt es «entweder überhaupt noch keine Pläne oder sie sind blockiert, unter anderem weil die Velomassnahmen den Ansprüchen nicht genügen (Heimplatz)». Obendrein wurde von den vier realisierten Projekten kein einziges innerhalb des angegeben Zeitrahmens umgesetzt, und bei den restlichen 22 sieht es ebenfalls nicht danach aus. Pro Velo fordert denn auch, dass «der Stadtrat und insbesondere das federführende Tiefbauamt die riesigen Lücken im innerstädtischen Veloroutennetz schliesst», und zwar rasch – und dass «die Qualität der Veloinfrastruktur den eigenen Ansprüchen des Stadtrats genügt».

 

Wie es um diese Ansprüche bestellt ist, lässt sich im ganzseitigen Interview mit Tiefbauvorsteher Filippo Leutenegger in der NZZ vom Dienstag nachlesen. Dort wehrt er sich tapfer gegen den Vorwurf, sein unterdessen angedachtes Projekt für die Rämistrasse werde zu teuer. Als sei das Geld das grösste Problem – in einer Stadt, in der z.B. am 14. Juni 2015 die Volksinitiative, die 200 Millionen Franken für sichere und durchgängige Velorouten forderte, ebenso angenommen wurde wie der Gegenvorschlag für einen Rahmenkredit von 120 Millionen Franken, wobei letzterer in der Stichfrage obsiegte. Damit wurde viel Geld fürs Velo gesprochen, das man eigentlich langsam ausgeben könnte. In einer Stadt obendrein, in der fürs Velo, wenn überhaupt, immer erst dann etwas gemacht wird, wenn Tramschienen oder Leitungen erneuert werden müssen.

 

Im selben Interview darauf angesprochen, dass er doch «unsinnige Projekte – taktisch clever – hinziehen» könnte, entgegnet Leutenegger der Ehrliche, das liege ihm fern: «Wenn der Auftrag klar ist, dann kremple ich die Ärmel hoch und erfülle ihn, so gut es geht.» Und überhaupt, zu sagen, er mache zu wenig fürs Velo, sei schlicht nicht wahr: «80 Prozent der Hauptrouten sind mittlerweile erstellt», verrät er der NZZ. Leider fragt keiner nach, wo die denn alle sind.

 

Die gute Nachricht lautet demnach: Man muss Leutenegger nur einen klaren Auftrag geben, dann handelt er. Velokonzept Innenstadt, Masterplan Velo, Einträge im regionalen Richtplan, Vorstösse im Gemeinderat, angenommene Initiativen oder Gegenvorschläge – das sind für ihn offensichtlich keine klaren Aufträge. Ergo liegt es nicht an ihm, wenn nichts geht … Und seine «Herzensangelegenheit», die Komfortroute um den See, kommt nur langsam vorwärts, da die Quartiere «berechtigte Einwände» haben und es Einsprachen gibt, wie er der NZZ klagt. Die Einteilung in «Hauptrouten» und «Komfortrouten» stammt übrigens aus dem Masterplan Velo, den Leuteneggers Vorgängerin Ruth Genner am 8. November 2012 der Öffentlichkeit präsentierte. Darin heisst es, «bis Ende 2016 werden die Haupt- und Komfortrouten entlang Sihl und Limmat sowie um das Seebecken realisiert (…)».

 

Ja, es ist ein Kreuz mit diesen RadlerInnen und ihren Routen. Und es ist natürlich schon eine Zumutung, als Stadtrat nicht auf der grünen Wiese frisch drauflosbauen zu können, sondern vieles übernehmen zu müssen, was auf fremdem Mist gewachsen ist. Für einen Stadtrat der Top 5 muss es ganz besonders hart sein, denn die wollen bekanntlich nicht verwalten, sondern gestalten. Dass Leutenegger vor diesem Hintergrund nicht nur als Stadtrat weitermachen, sondern sogar Stadtpräsident werden will, überrascht denn auch sehr. Gut, haben es die WählerInnen am 4. März in der Hand, ihn davor zu bewahren, sich diese schwere Bürde aufzuladen.

 

Nicole Soland

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