Partizipativ Geschichte puzzeln

Das Projekt «unseregeschichte.ch» will Schweizer Geschichte nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern auch mit ihr dokumentieren. 

Wer auf der Website unseregeschichte.ch die Rubrik «WG» aufsucht, dem lachen im ersten Beitrag fünf Männer und Frauen im Herbst ihres Lebens entgegen. Der Text darunter erklärt: Die fünf Senior:innen leben zusammen im 100-Seelen-Dorf Tenna über dem Safiental in der «Alten Sennerei», einer Alters-WG. Sie seien fest in der Surselva verwurzelt und wollen deshalb auch ihren letzten Lebensabschnitt hier verbringen, heisst es. Und: Die «Alte Sennerei» sei aus einheimischem Massivholz gestaltet, aus einem vertrauten Material, das sichtbar altert, wie die Bewohner der WG selbst.

Der nächste Beitrag zeigt das Profil eines bärtigen Mannes in einem Auto. Das Foto ist so verwackelt, dass es bei der Entwicklung mit einem dicken Filzstiftstrich als unbrauchbar markiert wurde. Trotzdem ist eindeutig, dass es aus den 1970er-Jahren stammt: Der Sepia-Stich, die Aviator-Brille, der Döschwo. Der WG-Döschwo, um genau zu sein. Im Begleittext erinnert sich der bärtige Mann auf dem Foto, Heinz Looser, an seine erste Wohngemeinschaft in Frauenfeld: Drei Freunde, Ravioli aus der Büchse, ein Putz-Turnus, der nur selten klappte. 

Einen Post weiter, Anfang der 1980er-Jahre, ist Looser in den Kreis 5 gezogen. Auf dem Bild sieht man ihn ohne Bart auf der schneebedeckten Dachterrasse des Hauses an der Konradstrasse stehen, daneben Studi-Kolleg:innen mit Rollkragenpulli und weiss-roten Adidas-Rom-Schuhen. Statt des Putz-Turnus hätten damals die jeweiligen Partner:innen der WG-Bewohner ein Konfliktpotenzial dargestellt, steht unter dem Foto geschrieben. 

Sozialarchiv sucht WG-Erinnerungen

Dass Looser mit 58 Beiträgen zu den engagierteren Nutzer:innen des Online-Archivs unseregeschichte.ch gehört, überrascht nicht: Er hat das Projekt – nach dem Vorbild des welschschweizer «notrehistoire.ch» – ins Leben gerufen, seit einem Monat ist die Seite online. Looser kennt sich mit Archiven aus. Fast dreissig Jahre hat er für Radio DRS und SRF Archive verwaltet und digitalisiert. Sein Ziel ist, mit  unseregeschichte.ch der Öffentlichkeit einen Raum zu geben, in dem Erinnerungen geteilt und gemeinsam Geschichte gestaltet werden kann: Bei dieser «partizipativen Geschichtsschreibung» können Teilnehmer:innen des Projekts Fotos, Videos, Audioaufnahmen und Texte ohne journalistischen Anspruch auf der Seite hochladen. «Die Bewohner:innen der Schweiz verfügen alle über einen Teil eines Puzzles der ganzen Landes», sagt Looser. «Diese Aufnahmen und Erzählungen widerspiegeln die Familien-, Orts- und Alltagsgeschichte.» Geschichte für die Bevölkerung, mit der Bevölkerung also, ohne Eingrenzungen, was die Themenwahl angeht: Eine Nutzerin erzählt beispielsweise von ihrer Grossmutter, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf einem Bauernhof im Entlebuch aufwuchs und deren Mutter vom Blitz erschlagen wurde, ein anderer erinnert sich an die strengen Sitten im Bad in
St. Margrethen vor 80 Jahren («Buben und Mädchen durften nicht gleichzeitig schwimmen, dafür sorgte die strenge Bademeisterin Frau Niederer»), ein dritter teilt ein Foto des Domat-Emser Jazz-Sextetts, bei dem er in Jugendjahren spielte. Viele Beiträge behandeln auch tragische Erinnerungen, wie die Geschichte einer Frau, die zwei Wochen vor ihrem Lehrabschluss bei einem grossen Schweizer Detailhändler von ihrem Chef sexuell missbraucht wurde. Seinen Job verlor daraufhin nicht der Chef, sondern sie. «Bei unseregeschichte.ch geht es darum, die Aspekte der Schweizer Geschichte zu zeigen, die für das gesellschaftliche Leben wichtig sind, aber viel zu wenig abgebildet werden», so Looser. «Im Positiven, aber eben auch im Negativen.» Eine Pflicht, Beiträge mit Klarnamen zu veröffentlichen, gibt es aus diesem Grund nicht. Einzig bei der Registrierung müssen Personendaten angegeben werden.

Aber nicht nur die Bevölkerung soll beim Geschichteschreiben mithelfen: Auch Hochschulen, Archive, Museen oder das Schweizer Fernsehen stellen Erinnerungsstücke zur Verfügung. Die Zusammenarbeit, so Looser, ist eine Win-Win-Situation: Das Fokusthema WG sei zum Beispiel aus der Kooperation mit dem Sozialarchiv entstanden, weil dieses in der nahen Zukunft Veranstaltungen zu dieser hochaktuellen Wohnform plane, aber nur über wenige Zeitdokumente dazu verfüge. Die Beiträge, die Nutzer:innen in der WG-Rubrik hochladen, sollen helfen, solche blinden Flecken der Schweizer Geschichte zu beseitigen, und als Inputkanal für das Sozialarchiv dienen. Auch für das Schweizerische Nationalmuseum dient Looser als Mittelsmann: Für eine Ausstellung zum Thema Italianità sammeln Migrant:innenorganisationen wie die Colonie Libere Erinnerungen ihrer Mitglieder, die auf dem Portal hochgeladen werden. Etwa im Monatsrhythmus soll jeweils ein neues Fokusthema lanciert werden – mit Einbezug der Partnerinstitutionen.

Redaktionelle Beiträge als Ergänzung

Finanziert wird der Verein unseregeschichte.ch von privaten Stiftungen. Das Jahresbudget von rund 190 000 Franken ist mittlerweile zu rund zwei Dritteln gedeckt. Die Suche nach Sponsoren erwies sich als schwierig, wie Looser erzählt: «Von den 40 Gesuchen, die ich an Stiftungen geschickt habe, wurden vier angenommen.» Das sei aber zu erwarten gewesen, und die Erfolgsquote von rund 12 Prozent sei vermutlich sogar leicht überdurchschnittlich. Sind die restlichen 80 000 Franken gesammelt, sollen zwei Teilzeitangestellte aus den Beiträgen von Mitgliedern und Institutionen redaktionelle Beiträge zu ausgewählten Themen aufbereiten. Bis dahin macht Looser vieles selbst oder arbeitet mit Freelancer:innen. 

Noch hinkt die deutschschweizer Version des Projekts mit ihren rund 100 Mitgliedern und 500 Beiträgen dem französischsprachigen Vorbild (rund 6500 Mitglieder, seit 2009) hinterher. Entsprechend leer sieht denn auch der Grossteil der Kommentarspalten aus, die sich unter jedem Beitrag befinden. Dereinst soll hier gehörig diskutiert,  geteilt und geliked werden, erhofft sich Looser, wie in einer Mischung aus Blog, sozialem Netzwerk und digitalem Archiv. 

Dieser Artikel, die Honorare und Löhne unserer MitarbeiterInnen, unsere IT-Infrastruktur, Recherchen und andere Investitionen kosten viel Geld. Unterstützen Sie die Arbeit des P.S mit einem Abo oder einer Spende – bequem via Twint oder Kreditkarte.