Nicht wahr?

Was für ein Held, nicht wahr? Mamoudou Gassama hat dieses kleine Kind gerettet, das im vierten Stock am Geländer eines Balkons baumelte. Das Video dazu ist kaum auszuhalten, ein Albtraum. Und dann, eben, springt dieser «Pariser Spiderman», wie man ihn nun nennt, ins Bild, turnt sich einfach diese Fassade hoch und rettet den Bub.

 

Frankreich jubelt, allen voran Emmanuel Macron, der den jungen Mann offiziell empfängt und ihm die Staatsbürgerschaft und eine Stelle bei der Feuerwehr verspricht. Denn dieser junge Mann ist nun kein gebürtiger Franzose, sondern ein sogenannter Wirtschaftsflüchtling aus Mali. Seit 2013 von zuhause weg, als Bootsflüchtling in Italien gestrandet und nun in Paris angekommen, wo er bei seinem Bruder lebt. Mamoudou Gassama ist ein illegaler Einwanderer. Einer von so vielen, die in Frankreich und auch bei uns leben und deren Namen, Gesichter und Geschichten wir weder kennen noch sehen wollen. Mamoudou Gassama war ein Niemand ohne Chancen und Perspektiven, nun hat er über Nacht neue Papiere und einen Job. «Der aussergewöhnliche Charakter dieser Tat rechtfertigt diese Ausnahmeentscheidung», wird Macron in der NZZ zitiert. Ja, es ist aussergewöhnlich. Man kann es kaum fassen. Dieser Zufall, dass Gassama genau dann an diesem Haus vorbeispaziert, als das Kind unbeaufsichtigt irgendwie über die Brüstung klettert, dieser Zufall, dass Gassama nicht einfach irgendein Flüchtling ist, sondern einer, der klettern kann wie wohl kaum ein zweiter.

 

Ein Märchen mit Happy End, nicht wahr?

Nein. Es ist die wahre und traurige Geschichte davon, wie wir, die wir alles besitzen, mit Menschen umgehen, die nichts haben. Es ist die Geschichte von Demütigung und Anmassung. Von ganz hoch oben lassen wir barmherzig und zufällig Menschen an unserem rechtlichen und ökonomischen Reichtum teilhaben, dann, wenn sie sich besonders hervorgetan haben mit einer Leistung, die gerne mindestens an einen Superhelden erinnert oder dann hoffentlich einfach aussergewöhnlich ist. Wie dressierte Affen lassen wir diese Menschen in der Arena zu unseren Füssen vortanzen, auf dass sie unsere Gunst gewinnen, uns beeindrucken, auf dass wir ihnen ein wenig von dem zukommen lassen, was wir selbst ganz ohne Gegenleistung einfach so erhalten haben. Und dabei wäre ja genau das eigentlich richtig, nicht wahr, dass man keine Leistung erbringen muss für ein Leben in Sicherheit, in Freiheit und Würde. So sollte es doch sein. Aber nein, wir massen uns an, über Leben zu entscheiden, indem wir Menschen das Selbstverständliche nur zugestehen, wenn sie Aussergewöhnliches vollbringen und besser sind, als wir es je waren oder sein werden.

 

So wird ein Mamoudou Gassama gerettet, aber nicht all die anderen Millionen Geflüchteten, denen der Zufall nicht zu Hilfe kommt, denn es gibt nicht genug baumelnde Vierjährige auf dieser Welt, und wenn die Flüchtlinge auch die irre Fahrt übers Wasser überlebt haben, sind sie am Ende vielleicht einfach schlechte Kletterer. Und so bleibt alles beim Alten, denn dieser Held aus Paris konnte zwei Menschen retten, sich selbst und dieses Kind, für mehr wird es dann doch nicht reichen.

 

In der NZZ ist zu lesen, was Nicolas Bay vom Front National zu diesem Ereignis meint: «Wenn man uns sagt, dass man Gassama wegen seiner mutigen Tat legalisiert und im Gegenzug alle anderen abschiebt, bin ich dabei.» Ian Bossat, Beigeordneter der Pariser Bürgermeisterin, hofft, dass der Fall dazu beitragen könne, «den Blick unserer Gesellschaft» auf Migranten zu verändern.

 

Eher nicht, nicht wahr?

 

Andrea Sprecher

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