Herzallerliebst

Sie ist neunzig Jahre alt und die grande dame der nouvelle vague. Er ist dreiundreissig und der französische hotshot der Street-Art. Gemeinsam fahren sie ein bisschen rum, verschönern Fassaden von Häuserruinen mit geplotteten Vergrösserungen von Automatenbildern der direkten AnwohnerInnen, unternehmen vergebliche Besuche bei alten Bekannten und plaudern reichlich philosophische Fragestellungen tangierend miteinander. Und: Beide haben niemandem überhaupt nichts zu beweisen. C’est le ton qui fait la musique. Und der Ton stimmt! Die kleine Agnès Varda und der hochgeschossene JR fahren durch französische Unorte, also verlassene Kohlearbeitersiedlungen, fehlgeplante Feriendörfer, die verfallen, konstant von der Schliessung bedrohte Fabriken und Reedereien. Überall treffen sie Menschen und begegnen ihnen genauso empathisch neugierig interessiert und bedingungslos offen, wie sie einander – mit immerhin fast sechzig Jahre Altersunterschied – Fragen stellen, Anekdoten erzählen und mitunter auch fachsimpeln. Denn beides sind gefeierte FotokünstlerInnen wie auch FilmautorInnen. Man hat zwischenzeitlich sogar das Gefühl, sie würden sich beide dermassen wohl fühlen in diesem Projekt, dass es ihnen schnurzpiepegal wäre, wenn ihr gemeinsamer Reisefilm oder ihre gemeinsame Filmreise unter dem Titel «Visages villages» von der Kritik in der Luft zerrissen, von überhaupt niemandem mit Interesse gesehen oder zum Kino rettenden Kassenschlager würde. Das ist so dermassen erfrischend! «Der Weg ist das Ziel» tönt so esoterisch, aber im Fall von Agnès Varda und JR scheint wirklich überhaupt nichts ihre innere Gelassenheit zu stören, noch nicht mal, wenn sie sich streiten oder im Mindesten uneins darüber sind, was denn das je primäre Interesse an der lebenslangen Auseinandersetzung mit Kunst ist. Sie machen einfach. Total selbstverständlich. Und schaffen damit ein herzallerliebstes Kleinod. Völlig unspektakulär im eigentlichen Wortsinne und gerade, weil es so dermassen aus der Zeit und dem zeitgeistigen Gehabe fällt, treffen sie damit eine Ursehnsucht und stehen dazu: Menschlichkeit. froh.

 

«Visages villages» spielt im Kino RiffRaff.

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