«Mitbestimmung ist Gerechtigkeit»

Am 3./4. Dezember diskutiert die SP am Parteitag in Thun über ein Positionspapier zur Wirtschaftsdemokratie. Das Papier ist kontrovers. SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi erläutert im Gespräch mit Tim Rüdiger die Positionen des Präsidiums und der Arbeitsgruppe, die das Papier verfasst hat.

 

Ein neues Positionspapier sorgt derzeit für Unruhe in der SP. Warum kommt das Papier für mehr «Wirtschaftsdemokratie» gerade jetzt?

Erstens haben wir im Jahr 2010 das aktuelle Parteiprogramm verabschiedet. Dieses ist, wie es auch im Vorwort des Positionspapiers steht, eine Art Verfassung für unsere Partei. Das Parteipräsidium hat im Jahr 2013 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um die Forderung nach einer demokratischeren Wirtschaft zu konkretisieren.

Zweitens ist es auch politisch der richtige Zeitpunkt. Die Welt ist zurzeit im Krisenmodus: Wir haben ökologische, soziale und wirtschaftspolitische Krisen, dazu das Flüchtlingselend. Die Wirtschaft, wie sie heute zu grossen Teilen funktioniert, hat die Menschen nicht an einen besseren Ort gebracht, viele spüren im Alltag die negativen Folgen einer Wirtschaftslogik, die sich um Fairness und Wertschätzung foutiert und alles kurzfristigen Profitzielen unterordnet.

 

Das Papier fordert unter anderem mehr Genossenschaften, eine politische Kontrolle der Nationalbank oder einen Zukunftsfonds, der durch Pensionskassengelder gespeist wird – weshalb diese radikalen Forderungen?

Welche radikalen Forderungen? Das sind konkrete Antworten auf bestehende Probleme und Herausforderungen, die sich an existierenden Beispielen und Initiativen in der Schweiz oder im Ausland orientieren. Und viele der Forderungen sind ja nicht neu. Beispielsweise forderten wir schon vor zwei Jahren nach der Aufhebung des Franken-Mindestkurses, dass sich die Nationalbank stärker am Gemeinwohl orientieren solle. Oder der Zukunftsfonds: Wir wollen Unternehmen fördern, die sich einer nachhaltigen Wirtschaftsweise verschreiben. Nochmals: Was ist daran radikal?

 

Aber das Papier setzt auf einer Ebene an, auf der es gar nicht denkbar ist, dass die Wirtschaft eine positive Rolle übernehmen könnte. Auf die integrative Leistung der Arbeitgeber wird gar nicht eingegangen, sondern klargemacht: Wir wollen, dass die Arbeitnehmenden eure Betriebe übernehmen.

Sorry, das stimmt nicht. Und wer ist eigentlich «die Wirtschaft»? Die sogenannten Arbeitgeber? Die Wirtschaft sind wir alle. All die Menschen, die Tag für Tag für den Erfolg ihrer Unternehmen arbeiten. Es ist ja genau das Anliegen des Papiers, dass die Wirtschaft eine positive Rolle übernimmt. Dass sie Perspektiven bietet und Antworten auf gesellschaftliche Herausforderungen findet, statt Probleme zu schaffen. Wir kämpfen nicht gegen die Wirtschaft, sondern für eine andere Wirtschaft. Und gerade in den Grossunternehmen heisst das halt auch, dass wir die Machtverhältnisse verändern müssen. Dass insbesondere auch die Mitarbeitenden über substanzielle Mitbestimmungsrechte verfügen müssen, weil sonst anonyme Kapitaleigner und die von ihnen eingesetzten VerwaltungsrätInnen und ManagerInnen allein nach Massgabe der Renditeoptimierung entscheiden. Ist dieses Problem nicht augenfällig?

 

Verstehen denn die von den Krisen betroffenen Menschen die geforderten Massnahmen?

Es gibt viele Menschen, die darüber frustriert sind, dass die Manager in ihren Firmen abkassieren, während sie selbst stehen bleiben. Sie vermissen die Wertschätzung für ihre Arbeit und leiden an der Unsicherheit, die regelmässige Entlassungswellen mit sich bringen. Im Papier fordern wir nicht nur mehr Mitbestimmung, sondern auch, dass Gewinne der ganzen Belegschaft zugutekommen sollen. Wenn sie gemeinsam darüber bestimmen kann, wofür die Gewinne verwendet werden, kann das dem Frust und der Ohnmacht entgegenwirken. Bezahlte Arbeit macht den Kernbereich des Lebens vieler Menschen aus. In diesem ganz wesentlichen Teil können wir aber nicht mitbestimmen – das ist es, was wir ändern wollen.

 

Im Untertitel des Papiers heisst es, «eine demokratische, ökologische und solidarische Wirtschaft zum Durchbruch bringen» – möchten Sie die Wirtschaft revolutionieren?

Im Papier fordern wir, dass Unternehmen gefördert werden, die anders wirtschaften. Viele solche Betriebe gibt es bereits. Viele davon sind Genossenschaften, aber es gibt auch Start-ups, die als Aktiengesellschaften oder GmbH organisiert sind und sich soziale und ökologische Werte auf die Fahnen geschrieben haben. Gemeinsam mit ihnen wollen wir die Wirtschaft weiterentwickeln, die Mitbestimmung fördern und die – eigentlich etwas stupide – Fixierung auf die Gewinnmaximierung hinter uns lassen. Zum Durchbruch verhelfen bedeutet, zukunftsfähige Ansätze gezielt zu stärken.

 

Vor kurzem beschwor Christian Levrat gegen den Rechtspopulismus den Klassenkampf. Auch dem Papier wird veraltete Klassenkampfrhetorik vorgeworfen.

Im Vorwort zum Positionspapier ist der Bezug zur Überwindung des Kapitalismus als Referenz zu unserem 2010 verabschiedeten Parteiprogramm gemacht. Von Klassenkampf ist im Papier nirgends die Rede. Im Gegenteil. Das Papier ist ja nicht zuletzt der Versuch, auch fortschrittliche unternehmerische Initiativen (Social Entrepreneurship, Économie sociale et solidaire etc.) aufzunehmen und in den Rahmen der «Wirtschaftsdemokratie» zu integrieren. Auch beim Thema Mitbestimmung geht es nicht um Klassenkampf, sondern um Gerechtigkeit und den vernünftigen Einbezug derjenigen, die sich Tag für Tag für den nachhaltigen Erfolg des Unternehmens einsetzen. Aber natürlich ist Wirtschaftsdemokratie kein Ponyhof. Natürlich geht es auch um Macht, Interessen und Konflikte. Und ich weigere mich auch, das auszublenden. Als können wir heute doch nicht so tun, als würden diese Auseinandersetzungen hinter uns liegen, wenn sie ganz offensichtlich topaktuell sind.

 

Trotzdem fordern einige Parteimitglieder nun eine Rückweisung des Positionspapiers.

Der Rückweisungsantrag kritisiert, dass das Papier nicht mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft in Übereinstimmung gebracht worden sei. Dieses wurde als Antwort auf den Realsozialismus entwickelt und weist heute nur noch auf die gängigen wirtschaftsliberalen Rezepte. Als SP setzen wir uns denn auch für eine «sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie» ein, nicht für die «soziale Marktwirtschaft». Man kann die Entscheide des Parteitags ja nicht einfach ignorieren. Ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussion auf der Ebene der Massnahmen geführt wird. Ich glaube, da liegen wir in den meisten Themen gar nicht so weit auseinander.

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