Kognitive Dissonanz

Etwas Schreckliches hat sich zugetragen und ich möchte euch darüber berichten. Im Genfer Pâquis-Quartier wurden die Auswirkungen von Videoüberwachungen im öffentlichen Raum wissenschaftlich untersucht. Tag und Nacht wird seit 2014 das gesamte Quartier mit Kameras beobachtet und im Hauptquartier der Polizei in Echtzeit ausgewertet. Nun wurden die Ergebnisse präsentiert. Laut Autor der Studie hatten die Videokameras keinerlei präventiven Effekt, im Gegenteil. Die Kriminalität hat im genannten Zeitraum um 15% zugenommen. An der Pressekonferenz gaben die Behörden bekannt: Man ziehe eine positive Bilanz. Das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung habe sich verbessert.

So stand es als Randnotiz in der Zeitung, klein und doch schrecklich. Denn während wir die letzten Wochen sämtliche verfügbaren Analysen und Artikel gelesen haben, um eine Antwort zu finden auf diese Ereignisse in den USA und überhaupt die gesamte postfaktische Tragödie, elektrisierte mich  diese vermutlich als Lückenfüller in die Ausgabe gerutschte Agenturmeldung mehr als alles andere. Diese paar ehrlichen Zeilen über den Umgang mit Realität und subjektivem Empfinden hat so viel mit all unseren aktuellen Diskussionen zu tun, dass man gar nicht weiss, wo anfangen.  Was, wenn man nicht mehr glaubt, was ist, sondern nur noch das, was sein soll?

Gerade als ich der Versuchung erliegen wollte, den Niedergang des Faktischen als traurige, aber neue Errungenschaft der heutigen Zeit zu beklagen, fiel mir Sven Epiney ein. Er hatte mal diese Sendung, in der die Teilnehmenden Fragen beantworten mussten, aber nicht für die richtige Antwort die höchste Punktzahl erhielten, sondern für die sogenannte «Topantwort», was wiederum die war, die eine Mehrheit der jeweils 100 auf der Strasse befragten Personen genannt hatte. Oder anders: die Gewinnerantwort auf die Frage, ob das Pâquis-Quartier in den letzten zwei Jahren dank der Videoüberwachung sicherer geworden sei, wäre nicht: «Nein, wollen Sie mich verarschen, die Kriminalität hat ja zugenommen», sondern «Ja, wir fühlen uns jetzt alle viel sicherer und deshalb ist es auch sicherer.» Es gibt also dieses Konzept der Realitätsverweigerung schon länger und sogar institutionalisiert in Form einer Unterhaltungsshow, aber auch Sven Epiney hat es nicht erfunden. In den 1950er-Jahren hat der Sozialpsychologe Leon Festinger untersucht, wie Menschen mit Wahrheiten umgehen, die nicht in ihr Weltbild passen. Dazu hat er Sektenanhänger begleitet, die für einen bestimmten Tag den Weltuntergang prophezeit hatten. Die überzeugtesten Mitglieder hatten im Vorfeld alles aufgegeben, die Wohnung, den Job, die Familie. Sie hatten alles hinter sich gelassen, versammelten sich gemeinsam und harrten dem Untergang. Der kam aber nicht. Bizarrerweise verstärkte das ihren Glauben, denn sie deuteten die Ereignisse um. Sie und die ganze Menschheit wurden vom Weltuntergang verschont dank ihres starken Glaubens an Gott. Sie hatten also die Welt gerettet.

Das war die Begründung der Theorie der kognitiven Dissonanz. Da es unerträglich ist, das eigene Weltbild durch die Realität widersprochen zu sehen, ändern wir nicht unser Weltbild, sondern die Realität. So absurd dieses Verhalten, so alltäglich ist es. Und längst nicht mehr nur unter Sektenmitgliedern oder ganz privat, wenn ich mir meine kleine Welt schön rede. Nein, es ist gross geworden. Und so stelle ich fest, dass etwas Schreckliches passiert ist: Es ist gefährlicher geworden im Pâquis-Quartier (auch wenn es niemand wahrhaben will), aber es ist auch gefährlicher geworden für uns (auch wenn es niemand wahrhaben will).

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