Sein Leitsatz war immer, «Die Gedanken sind frei»

aufgezeichnet von Tim Rüdiger

 

Waldemar Lippmann wäre lieber zu den «äusseren Linken» gegangen, aber in Adliswil gab es keine kommunistische Partei. Und so wurde er Mitglied bei der SP. Auf sich aufmerksam machte er auf einer Gemeindeversammlung: Weil der Gemeinderat trotz gutem Budget kein Geld für einen Kindergarten sprechen wollte, ergriff Lippmann das Wort und stellte – letztendlich erfolglos – einen Gegenantrag. Anschliessend fragten ihn die SozialdemokratInnen, ob er sich bei ihnen engagieren wolle. «Die lieben, braven Sozialdemokraten», nennt er sie. Seinen Antrag hätten sie zuvor aber nicht unterstützt.

«Ich habe immer gesagt, ich bin kein Sozialdemokrat, sondern Sozialist», sagt Waldemar Lippmann und lacht. Und doch blieb er der SP auch treu, als er nach zehn Jahren in Adliswil zurück nach Zürich zog, wo es alternative Parteien gegeben hätte. Lange engagierte er sich im Vorstand der SP 3. «Ich hatte aber immer gute Kontakte zu allen», sagt Lippmann. Bis heute ist er auch Gönner der AL – «so gut ich jetzt halt noch kann», man lebe ja teuer im Alterszentrum.

Seit nunmehr acht Jahren wohnt er im AZ Limmat, die Überbauung mit der auffälligen roten Fassade kennt er aber bereits seit der Eröffnung: Hierhin zog auch das Betreibungsamt, wo er von 1967 bis zur Pension gearbeitet hat. Danach sei er als ehemals städtischer Angestellter finanziell stets in einer glücklichen Lage gewesen. Er weiss aber auch, dass viele Ältere unter Druck stehen: Bis 2007 präsidierte er zwölf Jahre lang die Zürcher Sektion der Avivo, die «Vereinigung zur Verteidigung der RentnerInnen», die sich für Ältere mit finanziellen Problemen einsetzt. «Hier im Kreis 5 könnten sich ohne Ergänzungsleistungen ein Grossteil der Menschen keinen Aufenthalt im AZ leisten.» Seit diesem Jahr bezieht auch er EL.

Geboren ist Waldemar Lippmann 1927 in der Zürcher Frauenklinik. Sein Vater war Kommunist, Gewerkschafter und einst Zentralkassier der sozialistischen Jugendorganisation der «Jungburschen». In den Dreissigerjahren stand er auf der Schwarzen Liste; weil er keine Arbeit fand, arbeitete er auf dem Sekretariat der «Freunde der Sowjetunion». Die Mutter war ebenfalls Kommunistin, «sie tendierte aber mehr in Richtung Anarchismus». Sie arbeitete an verschiedenen Orten und schrieb manchmal für kleine Honorare Gedichte und Novellen für Zeitschriften wie «In freien Stunden» oder die Wiener «Rote Fahne». Die Familie musste innerhalb von Zürich oft umziehen, ausser in den Kreisen 11 und 12 hat er überall schon einmal gewohnt. «Am schlimmsten war es an der Limmatstrasse. Im Gegensatz zum offenen Geist von heute sympathisierten früher im Kreis 5 viele mit den Nationalsozialisten. Hier wurde ich wegen Aussehen und Name als ‹Judenbüebli› gehänselt.» Das bewegte ihn, der kein Jude war, schon früh dazu, sich für die jüdischen Kinder an der Schule einzusetzen.

Mit drei Jahren, auf den Schultern seines Vaters, war Waldemar das erste Mal an einem 1. Mai. Selbstverständlich nahm er von klein auf an den Aktivitäten der kommunistischen Kinder- und Jugendorganisationen teil: Zuerst bei den Pionieren (ähnlich den «Roten Falken»), mit fünfzehn Jahren dann bei der «Freien Jugend» (FJ). Dass Lippmann nie ein Dogmatiker war, zeigt nicht nur sein pragmatischer Beitritt zur SP: «Ich habe früher immer ‹Die Gedanken sind frei› gesungen. Ich liebe dieses Lied.»

Diesem Geist entsprechend kritisierte er auch die Sowjetunion. «Nicht die Gesellschaftsform an sich, aber ihre Auswüchse.» Mit der sowjetischen Kunst des sozialistischen Realismus etwa konnte er gar nichts anfangen. Lippmann hielt sich lieber an den Luzerner Künstler Hans Erni, den er persönlich kannte. «Als ich an einem sozialistischen Jugendfestival in Berlin meine Kritik äussern wollte, hat mich FJ-Präsident Ulrich Kägi fast zum Schweigen genötigt. Später war er es, der eine Hundertachtziggrad-Wendung hingelegt hat.» Nach dem Ungarnaufstand 1956 wurde Kägi als öffentlicher Kritiker des Kommunismus und der Neuen Linken zum Kronzeugen der Rechten. Wie hat Lippmann diese linke Zerreissprobe in der Familie erlebt? «Meine Mutter war bereits kritisch, als mein Vater noch das Vorgehen der Sowjetunion verteidigt hatte. Später wurden alle kritisch. Ich kenne viele Linke, die zu der Zeit eine Wandlung durchgemacht haben.»

Für die Avivo machte Lippmann regelmässig Stadtführungen. «Ich liebe Zürich», sagt er, «auf dem berühmtesten Hügel in der Stadt, bei einem Musikfest auf dem Lindenhof, habe ich auch meine Frau kennengelernt.» Mary stammte aus einer religiösen Familie und war nicht politisch. «Das war gar kein Problem. Ich respektiere den Glauben und würde ihn niemandem ausreden. Ich selbst bin aber Atheist, das ist klar.» Weil sie eine Wohnung gefunden hatten, zogen sie auf die Heirat nach Adliswil. Er arbeitete als Zolldeklarant in Zürich und engagierte sich in Adliswil politisch für die unentgeltliche Rechtsauskunft. «Gleichzeitig erhielt ich die Lokalsektion des Gewerkschaftskartells am Leben, indem ich zusammen mit der SP Veranstaltungen organisiert habe.» Zurück nach Zürich zogen sie, weil die zwei Töchter unter gesundheitlichen Problemen litten und deshalb eine Sonderschule besuchten. «Das schlug sich auch auf ihre Psyche nieder», sagt Lippmann. Unter seiner Initiative wurde 1986 die Zürcher «Vereinigung der Angehörigen von Schizophrenie- und Psychisch-Kranken» (VASK) gegründet.

Am 27. Dezember wird Waldemar Lippmann 89 Jahre alt. Er spricht ruhig, doch in seiner Stimme liegt viel Schalk. Erheitert drosselte er die Stimme auf Verschwörungslautstärke, als es darum ging, im Bistro des Alterszentrum Limmat den Nebentisch bei gewissen Äusserungen nicht mithören zu lassen. «Wer mich kennt, der weiss schon, wessen Geist ich bin. Da habe ich nie einen Hehl draus gemacht. Aber hier kennen sich natürlich wirklich alle…»

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