Kein Entrinnen

Die grosse Kunstfertigkeit iranischer Filmemacher wie Mohammad Rasoulof besteht darin, durch ihre poetische Erzählweise niederschmetternde Themen in eine einzig schwermütig stimmende Tonalität zu überführen und damit dem kritischen Hintersinnen erst einen Weg zu bahnen. 

 

Bürokraten nerven. Wenn sie ihr bisschen Macht in willkürliche Gängeleien ummünzen. Seit Jahren schon eilt Razieh in die Bank, um Heschmats Lohn abzuheben, derweil er in der dritten Reihe mit laufendem Motor wartet. Sie geht immer zum selben Schalterangestellten, hat jedesmal den Ausweis ihres Gatten dabei und stets unternimmt der Bankbürokrat den Kontrollanruf bei Heschmat. Ob die Auszahlung wirklich seinem Willen entspreche inklusive der Ermahnung, dies wäre jetzt wirklich eine blosse Geste seines Entgegenkommens. Schnitt. Pouya hat eben seinen zweijährigen Militärdienst angetreten. Im Sechserschlag der Kaserne heult er rum und wartet ungeduldig auf einen erlösenden Telefonanruf. Das Söhnchen aus gutem Hause, das sämtliche seiner Alltagspro­bleme via seine Verbindungen zu lösen gewohnt ist, stört den Schlaf seiner Zimmergenossen und erfährt fünf verschiedene Lösungsansätze, wie er aus seiner Bredouille herauskommen könnte. Vom guten Leumund über sein Verhalten während des Militärdienstes hängt ab, ob er einen Pass und eine Gewerbeberechtigung erhält. Schnitt. Er hat sich beeilt und sich Zusatzaufgaben aufgehalst, um Sonderurlaub zu erhalten, damit Javad am Geburtstagsfest seiner angebeteten Nana teilnehmen und ihr während der Feierlichkeiten einen Antrag machen kann. Er beobachtet, wie eine ungewöhnlich grosse Menge Mietstühle für die Feier geliefert werden und ist zeitgleich irritiert, wie niedergeschlagen die gesamte Stimmung ist. Von seinem potenziell künftigen Schwiegervater beiseite genommen, erfährt er, dass die Umstände eine Trauer- statt einer Geburtstagsfeier erforderten. Schnitt. Die Medizinstudentin Darya kehrt für eine Stippvisite aus dem Ausland zu ihren Eltern zurück, einem Imkerpaar in den Bergen, und versucht, den Anstand zu wahren, derweil ein Ärger von existenziellem Ausmass in ihr brodelt, der dann auch herausbricht. Sie fühlt sich verstossen, unverstanden und ungeliebt, weil sie bereits als Kind ungefragt zum Onkel ins Exil geschickt worden war und elternlos aufwachsen musste.

 

Vier Perspektiven, ein Thema

«There is no Evil», der an den Berliner Filmfestspielen mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet wurde, reiht vier scheinbar zusammenhanglose Geschichten von Alltagsschicksalen aneinander. Die Gemeinsamkeit unter ihnen entwickelt sich mit jeder neuen Filmminute deutlicher werdend als die ausführende Hand der Todesstrafe, zu der jeder iranische Mann in seinen jungen Jahren der Dienstpflicht werden kann, womit sich die Fragestellung verklausuliert aber dennoch sehr deutlich in Richtung der Infragestellung der Notwendigkeit eines Kadavergehorsams erweitert. Die Auffächerung in vier Positionen verdeutlicht die Tragweite des regimeseitig gewollten Vollzugs für praktisch alle in der Bevölkerung. Der stoische Knöpfchendrücker Heschmat, der nur mit pharmazeutischer Unterstützung überhaupt noch schlafen kann und sich pa­rallel dazu den grösstmöglichen Courant normal eines Familienlebens zurechtbiegt. Der intellektuelle Frischsoldat Pouya, der im Absolvieren des Dienstes die Verheissung eines Lebens in Freiheit im Exil sah und bereits in den ersten Wochen mit den tatsächlichen Kosten dafür konfrontiert wird, die er unter allen Umständen zu umgehen sucht. Der liebestolle Brautwerber Javad, der dem rechtzeitigen Besuch bei seiner Angebeteten alles andere untergeordnet hatte und jetzt unvermittelt mit der Kehrseite seines Eifers konfrontiert wird. Die zur Bewahrung vor einer Sippenhaft qua Befehlsverweigerung des Vaters überstürzt dem Onkel im Ausland überantwortete Frau, die sich jetzt über ihre geraubte Kindheit beklagt, während der Auslöser dafür das genaue Gegenteil dessen war. Jedweder Umgang mit der Todesstrafe führt unweigerlich zu Leid. Wie weit dieses selbst im indirektesten denkbaren Fall bis ins Gros der Gesellschaft hinein wirkt, also als Damoklesschwert über allen schwebt, ob sie sich jetzt weigern, zum Täter zu werden oder sich in diesem speziellen Fall eventuell sogar für ein einziges Mal willfährig unterordnen, um ein möglichst umfassend sogenannt ruhiges Leben führen zu können, es bleibt das Leid, die Belastung, die Abwesenheit von Unschuld. Entgegen dem Titel, der vielmehr sarkastisch nachklingt, ist der Inhalt das Gegenteil von nuancierter Rechtfertigung à la «bloss Befehle ausgeführt.» Mohammad Rasoulof richtet mit diesen vier Episoden einen dringlichen Appell an alle, sich ihres Handelns in seiner letzten Konsequenz vor Augen zu führen und fordert die (individuelle/kollektive) Einnahme einer dezidierten Haltung, wie er selbst dies in seiner Erzählweise recht explizit auch tut. Davor gibt es kein Entrinnen.

 

«There is no Evil» Kinos Movie, Kosmos.

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