Föderale Menschlichkeit?

 

Die lange Sommerpause ist vorbei. In der Schule liebte ich den ersten Montag nach den Ferien (jaja, das hat sich mittlerweile geändert). Man traf endlich alle Gspändli wieder, es war noch nicht so richtig streng, denn an einen normalen Unterricht war nicht zu denken und die Lehrerinnen und Lehrer mussten das Erzählen der Ferienerlebnisse irgendwie in die Stunde einbauen. Ein Gschnäder also in den Schulzimmern und Gängen.

Schön, dachte ich am Montag, dass das auch unter Erwachsenen noch immer so ist. Sogar im Kantonsrat. Dort wurden ebenfalls, natürlich geschickt in die Voten verpackt, Ferienerlebnisse ausgetauscht. Also Barbara Steinemann zum Beispiel, SVP-Kantonsrätin aus Regensdorf, war in Eritrea. Oder Afghanistan. Oder Syrien. Also so genau sagte sie es nicht.

Aber so: Flüchtlinge kommen «nicht aus Kriegsgebieten, sondern aus Ländern, in denen wir Ferien machen». Deshalb sage die SVP-Fraktion Nein zum dringlichen Postulat von Céline Widmer, SP-Kantonsrätin (und Mitunterzeichnenden aus GLP und EVP), das den Regierungsrat damit beauftragen wollte, einmal zu prüfen, «wie er sich für die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge einsetzen kann».

Das Postulat wurde schliesslich mit freundlicher Unterstützung der FDP abgelehnt, allerdings nicht aus den gleichen niederen Gründen wie die SVP, wie sie betonte, sondern alleine deshalb, weil Flüchtlingspolitik Sache des Bundes sei. Aus liberaler Sicht lässt man Menschen also wenn schon dann aus föderalistischen Gründen ersaufen.

 

Ja, es läuft im Fall nicht so gut in Sachen Menschlichkeit. Es ist uns etwas verrutscht, Grenzen haben sich verschoben oder gänzlich aufgelöst.

Ich bin kürzlich erst auf ein Video gestossen über ein Experiment in Essen. Dort klebten während zwei Tagen in einigen öffentlichen Bussen Schilder mit dem Hinweis, Ausländer und Asylbewerber hätten sich hinten hinzusetzen, die vorderen Sitzreihen seien für Deutsche reserviert. Der Kontrolleur forderte jeweils einen dunkelhäutigen Menschen – alles Schauspielerinnen und Schauspieler – laut und für alle gut hörbar dazu auf, nach hinten zu gehen.

Liest man den Artikel zum Video, zeigen sich die Macher erleichtert darüber, dass die unwissenden Mitfahrerinnen und Mitfahrer Zivilcourage bewiesen und sich gegen diese eigentlich undenkbare Diskriminierung wehrten. Teilweise so massiv, dass man die Übung abbrechen und sich zu erkennen geben musste. Sieht man sich hingegen das Video an, erfährt man ganz am Schluss, dass das in 80 Prozent der Fälle so war. In 20 Prozent der Fahrten hingegen sagte niemand etwas und liess es geschehen.

 

Wirklich jetzt? Es gibt Menschen, die nicht reflexartig aufspringen in dieser absurd überzeichneten Situation? Getrennte Sitzreihen sind nicht einfach eine subtile Form von Alltagsrassismus. Man kennt historische Beispiele, die allen bekannt sind, auch jenen, die nur einmal im Jahr zufällig Zeitung oder überhaupt etwas lesen. Wie um Himmels Willen ist es also möglich, dass man so etwas zulässt?

Ja, es ist uns da etwas verrutscht. Etwa so wie der GLP in Zürich, die mit Ecopop eine Listenverbindung eingeht für die nationalen Wahlen. «Rechnen, rechnen, rechnen, erst dann kommt die Liebe», sagt Martin Bäumle, Präsident der Grünliberalen.

 

Das ist gefährlich. Politik ist nicht Mathematik. Man kann Menschlichkeit nicht verrechnen, man kann sie höchstens verraten. Und es ist dabei egal, ob man es aus föderalen Gründen tut, aus jenen der SVP oder einfach deshalb, weil man schweigt, wenn man es nicht sollte. Denn dann sind die getrennten Sitzreihen plötzlich da. Und alle haben es kommen sehen.

 

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