«Es ist eine Illusion, eine Partei für alle zu sein»

Warum verlieren sozialdemokratische Parteien Wahlen und wer wählt sie überhaupt noch? Dazu haben sieben PolitikwissenschaftlerInnen der Uni Zürich ein Buch geschrieben. Im Gespräch mit Min Li Marti gibt Silja Häusermann Auskunft über Wählerschaft und Perspektiven der SP.

 

Seit einiger Zeit verlieren sozialdemokratische Parteien in ganz Europa Wähleranteile. Dazu gibt es verschiedene Thesen. Die eine sagt, die Sozialdemokratie sei zu wenig rechts. Sie solle sich weniger um «identitätspolitische» Themen wie Migration oder Gleichstellung kümmern. Was sagt Ihre Forschung dazu?

Silja Häsuermann: Es gibt einen grundlegenden langfristigen Trend der Erosion. Nicht das linke Lager wird dabei kleiner, sondern es gibt eine Erosion der Sozialdemokratie. Es ist überall so und hat vor allem strukturelle Wurzeln, die nicht in der kurzfristigen Strategie liegen. Sowohl in Deutschland wie in der Schweiz gingen Wähleranteile verloren, obwohl die Parteien eine ganz andere Ausrichtung haben. Das liegt daran, dass sich die Gesellschaftsstruktur verändert und dass im linken Feld mehrere Parteien aufgekommen sind, die ähnliche, aber doch unterschiedliche Akzente setzen und sich die Stimmen auf mehr Parteien aufteilen. Die sozialdemokratischen Parteien müssen jetzt überlegen, wie sie damit umgehen. Wir hatten eine Diskussion in Berlin mit der SPD und fragten: Stellt ihr euch unter dem/der typischen SPD-WählerIn eher die Physiotherapeutin oder den Bergbauarbeiter vor? Sie sagten: Wir wollen die Partei für alle sein. Wenn wir die Einstellungen verschiedener sozialer Gruppen untersuchen, ist das aber eine Illusion. In dieser fragmentierten Parteienlandschaft und der fragmentierten Gesellschaft, wo die Lebensrealitäten sehr unterschiedlich sind, ist es unmöglich alle anzusprechen. 

 

Was wäre die richtige Strategie?

Unsere Befunde sagen, dass es zwei Strategien gibt, die nicht erfolgreich sind. Die eine ist eine zentristische Strategie, wo man versucht, möglichst moderat zu sein und so in keinem Bereich mehr die Debatte prägt. Und die zweite Strategie, bei der unsere Daten klar sagen, dass sie nicht funktioniert, ist eine linksnationale oder linkskonservative Strategie. Es gibt zwar durchaus Leute, die verteilungspolitisch links, aber gesellschaftspolitisch konservativ sind, aber dieses Elektorat ist sehr schwer zu mobilisieren und wird zudem eher kleiner. Das noch grössere Problem ist, dass selbst wenn man hier Leute ansprechen kann, man mit dieser Strategie mit grosser Wahrscheinlichkeit auf der anderen Seite mehr WählerInnen an grüne und links-progressive Parteien verliert, als man gewinnt.

 

Eine andere beliebte These sagt, das Problem der Sozialdemokratie sei, dass sie durch Schröder, Blair und den Dritten Weg zu rechts geworden sei. 

Diese Wahrnehmung, dass die Sozialdemokratie als zu eingemittet oder zu rechts angesehen wird, das stimmt für eine gewisse Zeitperiode in genau jenen Ländern, die es betrifft. Gerade die SPD erholt sich davon nur schwer. In der Schweiz gab es aber diesen Dritten Weg nie. Die wichtigste Evidenz gegen diese These ist aber, an wen die Sozialdemokraten WählerInnen verlieren. Sie verlieren sie nicht etwa an linkere Parteien, sondern an die Grünen und an Parteien aus dem politischen Zentrum. 

 

Was macht heute den/die typische SP-WählerIn aus? 

In ganz Europa gab es eine Umstrukturierung in der linken Wählerschaft. Praktisch in allen Ländern ist der Anteil von WählerInnen aus der Mittelschicht gewachsen. Das hat zwei Gründe: Der eine ist, dass es eine massive Bildungsexpansion und viel mehr Beschäftigung in gut qualifizierten, personenbezogenen Berufen gegeben hat. Dazu kommt, dass in der Mittelschicht die Bereitschaft gestiegen ist, links zu wählen. Die klassische Arbeiterklasse hingegen ist geschrumpft und die ArbeiterInnen sind auch weniger links.  Diese Trends sind in der Schweiz sehr ausgeprägt. 

 

Es wird immer wieder gesagt, dass die SP WählerInnen an die SVP verloren hat. Tatsächlich ist die SVP bei den Dienstleistungs- und ProduktionsarbeiterInnen stärker als die SP. Dennoch sagt ihr im Buch, es gäbe keine Abwanderung von der SP zur SVP. 

Es gibt keine direkte Abwanderung. Es ist nicht so, dass man 20 Jahre SP wählt und dann wählt man SVP. Das ist wichtig zu wissen, weil es bedeutet, dass es auch kaum WählerInnen «zurückzugewinnen» gibt. Die ArbeiterInnen, die heute rechts wählen, waren nie links. Dass Leute aus der Arbeiterschicht heute eher konservativer wählen liegt daran, dass die politischen Debatten seit 20 Jahren klar dominiert sind von gesellschaftspolitischen Themen wie Europa oder Migration. Und die ArbeiterInnen wählen die SVP primär wegen diesen Themen, nicht weil sie die Rentenpolitik der SVP toll finden. Jetzt kann man sagen, dass die gesellschaftspolitisch progressive Einstellung der SP dazu beigetragen hat, dass die ArbeiterInnen heute SVP wählen. Aber nur dank dieser Positionierung konnte sich die SP neue, wachsende, jüngere Wählersegmente erschliessen.

 

Wie unterscheiden sich WählerInnen von SP und Grünen?

Die Hauptunterscheid ist die Altersstruktur. Die Wählerschaft der Sozialdemokraten ist in der Tendenz älter als die Wählerschaft der Grünen. Heute sind über 40 Prozent der SP-Wählenden über 60. Das liegt auch daran, dass die Wählerschaft mit der Partei über die Zeit altert.

 

Die Wählerschaft der SP ist also alt, die Führung der SP hingegen ist jung. Passt das zusammen? 

Wir haben angeschaut, ob die älteren und jüngeren SP-Wählenden unterschiedlich ticken. Das haben wir nicht gefunden.  Auch die älteren SP-Wählenden in der Schweiz sind ganz klar gesellschaftspolitisch progressiv. Bei einem einzigen Punkt haben wir Unterschiede festgestellt. Wenn man eine Frage stellt zum Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, dann sehen wir, dass ein älteres linkes Elektorat ein solches Verbot eher als progressive Position wahrnimmt. Hingegen für jüngere die Akzeptanz von religiösen Symbolen und von Diversität als fortschrittlich gilt. 

Die Frage war ja, ob die Parteileitung zur Partei passt. Die SP hat zwar ein älteres Elektorat, aber sie ist bei den Jungen stabil. Die SP hat vor allem in der Mitte verloren: bei den 35- bis 60-Jährigen. Das ist die Generation, die links mit den Grünen politisiert wurde. Entscheidend wird sein, welche Partei bei den heute Jungen punktet. Hier ist und bleibt das Rennen offen zwischen SP und Grünen.  

 

Die Befragungen scheinen zu zeigen, dass gesellschaftspolitische Themen auch bei Linken ausschlaggebender sind für den Wahlentscheid.

Nein, gleich wichtig! Für SP-WählerInnen sind ökonomische verteilungspolitische Themen gleich wichtig wie gesellschaftspolitische Themen. Für FDP-Wähler beispielsweise sind ökonomische Themen klar wichtiger. 

 

Es gab ein Buch von Ezra Klein über die Polarisierung in den USA. Darin gibt es die These, dass die WählerInnen sich auch insbesondere in Abgrenzung zur anderen Partei definieren. 

Man muss etwas aufpassen mit dem Vergleich mit den USA, weil es dort ein bipolares System ist. Dass die politische Verortung immer auch in Abgrenzung passiert, ist natürlich dennoch richtig. 

 

Ist es also doch ein Programm, gegen die SVP zu sein? 

Es ist auf jeden Fall eine Heuristik. Man weiss dann, wo man steht und wo man nicht steht. Die SVP ist ja ein klarer Gegenentwurf zu den neuen sozialen Bewegungen, die in den 1980er-Jahren aufgekommen sind. Für viele Linke ist heute vielleicht weniger wichtig, ob sie jetzt Grün oder SP wählen. Aber es ist ganz klar, dass sie am anderen Pol von der SVP stehen. So verstehe ich auch den SP-Slogan für das Wahljahr, «Wir ergreifen Partei». Das nimmt die Idee auf, dass es einen Konflikt in der Gesellschaft gibt, und die Partei auf der einen Seite des Konflikts ist. Sie ist nicht in der Mitte, sie ist keine Vermittlerin. Sie will ein Pol sein. 

 

Was ich interessant fand ist, welche Themen ausschlaggebend sind zur Wahl einer Partei. Es ist nicht ganz überraschend, dass man der SP am meisten Kompetenz bei der Sozialpolitik und den Grünen bei der Umweltpolitik zubilligt. Aber offenbar sind die Themen Migration und Europa sehr wichtig für SP-WählerInnen. 

Das ist einer der Befunde, die uns auch überrascht haben. Wenn wir die Leute fragen nach Kompetenz in der Migrationspolitik, dann nennen quasi gleich viele die SP wie die SVP. Also Leute, die eine offene und liberale Migrationspolitik wollen, wählen SP. Das gleiche gilt für die Europapolitik – die SP wird als Gegenpol zur SVP wahrgenommen. Das ist nicht selbstverständlich. Für die SPD gilt das beispielsweise nicht. Das lässt sich dadurch erklären, dass die SP Schweiz hier schon sehr früh eine progressive Position eingenommen hat. 

 

Die SP ärgert sich in der Umweltpolitik immer darüber, dass nur den Grünen Kompetenz zugeschrieben wird. 

Kompetenzzuschreibungen sind allgemein wahnsinnig stabil. Das hat Vor- und Nachteile. In der Europapolitik profitiert die SP noch von dieser Zuschreibung, auch wenn sie hier immer mal wieder schlingert. Und es ist ja klar, dass die Grünen im Umweltthema ihre zentrale Resonanz haben. Darum gibt es sie ja. Es ist auch für die WählerInnen der Grünen das wichtigste Thema. 

 

Eine umstrittene Frage in der SP ist auch, ob die Grünliberalen eine Konkurrenz sind für die SP oder nicht. 

Am meisten WählerInnen hat die SP an die Grünen verloren. Am zweitmeisten an NichtwählerInnen.  Dann ist es zu etwa gleichen Teilen an Parteien der Mitte, also auch an die Grünliberalen.  Aber es gibt durchaus das Risiko von weiteren Verlusten. Etwa vierzig Prozent der SP-Wählenden können sich vorstellen, GLP zu wählen. 

 

Wir sehen ein Nullsummenspiel zwischen SP und Grünen. Wie kann die Linke überhaupt stärker werden?

Realistischerweise gibt es für die Sozialdemokratie wohl kein Zurück auf vergangene Wähleranteile. Das Hauptziel muss halten sein, denn die Fragmentierung im Elektorat ist stabil. Aber das linke Wählerpotenzial ist insgesamt gross, etwa 40 Prozent. Ich habe vorher gesagt, dass vierzig Prozent der SP-WählerInnen sich auch vorstellen können, GLP zu wählen. Das gilt aber auch umgekehrt. Zudem: Es wirkt immer verlockend, NichtwählerInnen anzusprechen, gerade in der Schweiz, wo es so viele davon hat. Vor allem viele junge NichtwählerInnen können sich eine Linkswahl vorstellen. Entgegen verbreiteter Vorstellungen gibt es in allen westeuropäischen Gesellschaften einen links-progressiven Trend. Die Einstellungen sowohl bei Umverteilungsfragen wie auch bei der Gesellschaftspolitik verändern sich eher nach links.  Auch das spricht dafür, dass man bei den Jungen investieren muss.

 

Zum Schluss noch zur These von Ralf Dahrendorf, dass die Sozialdemokratie am Ende sei, weil sie ihre Aufgaben erfüllt hat. Die Klimafrage als ungelöstes Problem des 21. Jahrhunderts wird eher den Grünen zugeschrieben. Was ist denn jetzt noch die Aufgabe der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert?

Das Gleichgewicht zwischen Markt und Staat war im 20. Jahrhundert tatsächlich die entscheidende Frage. Die soziale Marktwirtschaft, also die Balance zwischen Kapitalismus und sozialer Sicherheit ist eine grosse Errungenschaft. Für das 21. Jahrhundert gibt es natürlich die Klimafrage, aber nicht nur. Nehmen wir die Pluralisierung der Gesellschaft. Wie gehen wir mit einer zunehmenden Vielfalt von Menschen und Lebensentwürfen um? Wie kann eine Solidargemeinschaft funktionieren, die nicht auf der Nationalität beruht?  Oder die Zukunft der Arbeit. Das sozialdemokratische Projekt beruht auf dem Wert der Arbeit, die anerkannt und gerecht entlöhnt werden soll. Was heute Arbeit ist und welche Arbeit zählt und wie die Gewinne verteilt werden, das ist eine zentrale Frage in der heutigen Wissensgesellschaft. 

 

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