Endlos zuhören können

Joachim Rittmeyer ist ein Meister des fantastischen Geschichtenerzählens, ohne dass einem dabei jemals in den Sinn käme, den Vergleichswert eines Realitätsbezugs für die Einordnung auch nur schon Betracht zu ziehen.

 

Nach fünf Minuten ist Pause. Also nach gefühlten fünf Minuten. In der Realität steht Joachim Rittmeyer bereits über eine Stunde lang auf der Bühne – und spricht. Fabuliert, fantasiert, werweisst, philosophiert, hintersinnt und amüsiert. In «Neue Geheimnische» anerbietet er sich im Dienst der Wissenschaft als solidarisch Rätsel zu lösen Helfender. Roman Zemp heisst das Phänomen. Ein Bauer, der vom frühabendlichen Batteriekontrollgang für den Menschenalarm auf dem Feld nicht zurückgekehrt ist und erst am Morgen bewusstlos inmitten eines riesigen Kornkreises aufgefunden wurde. Er atmet, und stellt man ihm einen Boskop auf den Nachttisch, entzieht er diesem die für sein eigenes Überleben notwendige Feuchtigkeit und Nährstoffe. Weil er im Spital wie auch zuhause zu wenig äusserer Stimulanz ausgesetzt ist, die ihm beim Erwachen helfen könnte, wird er von einem Careteam begleitet, in allerhand verschiedene Kontexte verliehen. Heute: Im Kabarett von Joachim Rittmeyer. Geistesgegenwärtig wie der gewiefte Altmeister ist, lässt er sein einstudiertes Programm kurzerhand links liegen und zieht aus diesem doch recht eigenartigen Umstand des Bühnenteilens spontan ein Füllhorn an Assoziationen, mit denen er die folgenden zwei Stunden bestreitet, als wärs auswendig gelernt… So ein Dornröschenschlaf ominösen Ursprungs, von mehreren Disziplinen der Forschung mit Argusaugen beobachtet, ist ja für sich besehen der ideale Steilpass für grundsätzliche Betrachtungen über ein Leben. Das erste Wort und Sprechenlernen zum Beispiel, und schon hat Joachim Rittmeyer ein Fallbeispiel aus dem realen Leben zur Hand, das natürlich nach etlichen Windungen in ein zwischenmenschliches Drama mündet. Oder der Apfel als Grundnahrungsmittel, also die einzig zur Verfügung stehende Verlockung, zieht man die Genesis mit in Betracht. Oder der Schlaf, oder der Traum, oder der Besuch mit den obligaten, hinterlassenen Schnittblumen, oder die Arbeitsbedingungen des Careteams, oder die Verausgabung im Sport, in der Liebe und der Kunstherstellung. Für viele der spezifischen Herausforderungen kann Joachim Rittmeyer auf eine Vielzahl von ausgewiesenen Experten zurückgreifen: Fürs Grünzeug Theo Metzler, für die Kunstherstellung Leu Leupi, für die generelle Infragestellung alles für gesetzt genommenen Jovan mit dem unverkennbaren Zungenschlag. Für gewöhnlich verliert, wer im Feuer des Erzählens bald schon ins sich Ereifern gerät, irgendwann die Orientierung. Nicht so Joachim Rittmeyer. All seine Ausflüge ins Allzumenschliche und Kaumüberbietbarabsurde kehren höchst elegante Wortvolten ziehend immer wieder zurück an ihren Ursprung und ermöglichen ihm, wie dem an seinen Lippen hängenden Publikum, in grösserer zeitlicher und vor allem inhaltlicher Distanz dieselbe Fragestellung aus komplett komplementärer Perspektive nochmals durchzuexerzieren und zu einem genauso verblüffenden Schluss zu gelangen, wie bereits beim ersten Mal. Und natürlich einem genauso einleuchtenden. Denn die Welt an sich ist simpel und nur der Mensch verkompliziert diese lösungsorientierte, pragmatische und grosszügig allem zugewandte Einfachheit eines Daseins unnötig. Wenn Joachim Rittmeyer zum Schluss resümiert, «de praktischi Nutze vo somene Abig isch ja umstritte», hat er einen als Zuhörer bereits so erfolgreich um den Finger gewickelt, dass jeder Protest einem gar nicht in den Sinn kommen will. Dabei gibts da eine ganz zentrale und wirklich traurige Wahrheit: Auch dieses Kabarettprogramm hat ein Ende und das, obschon man ihm noch stundenlang zuhören könnte…

 

«Neue Geheimnische», 25.4., Casinotheater, Winterthur. In Zürich: 4. bis 22.12.19, Theater Hechtplatz.

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