Eine Ode an den Verzicht

Zürcher Bahnhofstrasse an einem Dienstagnachmittag im Dezember. Körper an Körper quetscht sich planlos entlang der Regale, gestresste Last-Minute-ShopperInnen drängeln sich links und rechts vorbei, Kinder zerren ungeduldig an Ärmeln und weinen. Es handelt sich um eine Gattung von Menschen, die sich in den letzten Jahren, so scheint es mir jedenfalls, rasant fortgepflanzt hat. Eine gross angelegte Studie in den USA kam zum Schluss, dass jeder Fünfte in den Tagen rund um Weihnachten gestresst ist. Laut einer Studie aus Grossbritannien verbringen wir im Schnitt sogar 288 Stunden mit Weihnachtsvorbereitungen. Das sind zwölf Tage und zwölf Nächte.

 

Früher war das ganz anders. Nicht, dass ich es mit meinen zarten zwanzig Jahren selbst erlebt hätte, aber oft gehört. Nein, früher war nicht alles besser, aber das Weihnachtsfest definitiv. Unsere Überflussgesellschaft gab es nur bedingt. Als Kind bekam man nicht jedes Jahr die neueste Version der Playstation, die nach einem Jahr bereits wieder «out of date» war, sodass die neue neueste bereits kurz nach der Bescherung für’s neue Jahr eingeplant werden konnte. Es gab Socken, einen selbstgestrickten Wollpulli, vielleicht selbstgemachte Leckereien. Ich bin überzeugt, dass sich die Beschenkten damals sehr gefreut haben. Nicht, weil das Geschenk gross und teuer war, sondern weil es von Herzen kam, sich die Person etwas Passendes überlegt hat und sich mehr zumutete, als sich durch die vollgestopfte Bahnhofstrasse zu quetschen. Als Weihnachten noch in Ordnung war, musste es kein niedergegartes Filet vom neuseeländischen Küstenrind sein, das man zuvor während fünf Tagen stündlich mit Sojasenfsauce einrieb, um damit die Schwiegereltern zu beeindrucken.  Aber irgendwoher müssen die 288 Stunden ja kommen.

 

Wenn ich es in der Weihnachtszeit auch nur ansatzweise wage, den ganzen Zirkus kritisch zu beleuchten, werde ich von glühweintrinkenden und nach Anis stinkenden Menschen angehalten, doch nicht immer den Pessimissten raushängen zu lassen und mich den schönen Seiten des Advents zu widmen. Stimmt, auch ich trinke gerne Glühwein. Besonders süss, am liebsten nach dem Rezept einer Freundin, ohne Anis, dafür mit umso mehr Cranberrysaft. Aber ich mag ihn zuhause, im Warmen. Ohne klebrige Finger, weil mir im Sekundentakt in der Sardinenbüchse (die zur Weihnachtszeit verheissungsvoll «Weihnachtsmarkt» genannt wird) jemand auf die Füsse tappt und mein exorbitant teures Heissgetränk überschwappt. Aber hey, da gibt es ja Weihnachtsmusik, geschmückte Tannenbäume und eine tolle Lichtstimmung, das lässt einen die verbrühten Finger im Nu vergessen.

 

Die Gründe für meine Nichtbeteiligung an der Adventsheiterkeit liegen jedoch tiefer. Seit ich nicht mehr ans Christkind glaube und damit der Zauber von Weihnachten endgültig verflogen ist, beginnt mich der ganze Zirkus Jahr für Jahr mehr zu nerven. An diesem Dienstagnachmittag im Dezember befinden sich mal wieder besonders viele dieser Menschen um mich herum auf der Suche nach dem perfekten Geschenk. Frei nach dem Motto «teurer ist geiler» und «egal ob’s gefällt, Hauptsache ich hab meine Pflicht erfüllt» stürmen die Gewissensgeplagten die Boutiquen und Parfümerien dieser Stadt, um ihre überfüllten Taschen Stunden später ausgepowert nach Hause zu schleppen.

 

Gott hat uns aber glücklicherweise nicht nur das Weihnachtsfest, sondern auch den ‹Blick› geschenkt. Darin können Weihnachtsstressgeplagte jeweils zu Beginn der Adventszeit in sieben Tipps lesen, wie der Stress reduziert werden kann. «Den Ablauf des Weihnachtsfestes absprechen und die Verpflichtungen auf ein Minimum reduzieren» beispielsweise. Oder «Nur ein Geschenk pro Person besorgen und eine genaue Liste mit allen Geschenken machen».

 

Quatsch! Hört mit dem Schenken auf und reduziert eure Erwartungen an die Festtage auf ein erträgliches Mass. Früher ging es darum, gemeinsam einen gemütlichen Abend zu verbringen und seinen Liebsten mit einem passenden, kleinen Präsent seine gegenseitige Wertschätzung zu zeigen. Auch ich war als Kind der Ansicht, dass grössere Geschenke die besseren sind. Aber ich bin kein Kind mehr. Ziel des Schenkens ist es geworden, den anderen mit etwas Teurem zu beeindrucken und dadurch zu verwischen, dass man eigentlich keine Ahnung hat, über was sich das Gegenüber freuen würde. Warum schenken wir uns nicht wieder vermehrt Zeit oder etwas Selbstgemachtes? Oder das pflichtbelastete Schenken vor Weihnachten gänzlich abschaffen und jedem lieben Menschen einmal unter dem Jahr ein Weihnachtsgeschenk machen? Dann, wenn sich eine gute Gelegenheit bietet.

 

Der grösste Teil unserer Überflusskonsumgesellschaft ist sich gewohnt, unnötige Luxusgüter zu kaufen. Die meisten können sich ihre heutzutage erfüllen – sofort, nach kurzer Sparzeit oder per Kredit. Konsum macht uns glücklich. Jedenfalls im Moment des Konsums. Also in der kurzen Zeit des Kaufens. Danach muss ein neuer Kauf her. Verzicht ist nicht sexy. Verzicht fällt uns so schwer, weil wir uns nicht mehr gewöhnt sind, zu verzichten. Wenn ich auf die politische Ebene wechsle, ist diese Feststellung als Mitglied der Grünen meine grösste Sorge. Niemand ist bereit, zugunsten der Umwelt zu verzichten. Wenn es beispielsweise bei der Energiestrategie 2050 darum geht, die Energiewende zu schaffen, kann sich der/die DurchschnittsschweizerIn an der Urne dazu durchringen. Die Folgen für den Einzelnen sind verkraftbar – die Stromrechnung wird etwas teurer, wir sollten daher etwas konsequenter das Licht löschen, wenn wir einen Raum verlassen. Soll aber die Massentierhaltung abgeschafft, das Fliegen durch massiv höhere Preise eingeschränkt, oder gar der motorisierte Individualverkehr einschneidend geschwächt werden, ist niemand dabei. Denn dann müssten wir unser Verhalten ändern. Weniger oder gar kein Fleisch mehr essen. In die Schweizer Berge anstatt nach Mauritius in die Ferien gehen. Oder schlimmer noch: kalt duschen…

 

Auch wenn ich selbst gerne kurz, aber warm dusche, übe ich Kritik an unserem stetig steigenden Wohlstand. In den meisten Parteiprogrammen wird gar mehr Wohlstand angestrebt. Wo soll das hinführen? Auf Kosten welcher Menschen ginge dieser? Was soll uns das bringen? Glücklicher werden wir davon bestimmt nicht. Ich bin keineswegs der Ansicht, dass alle in unserem Land genug Wohlstand haben. Dieses Problem lässt sich nur mit einer gerechteren Verteilung lösen. In der Gesamtheit aber haben wir zu viel Wohlstand. Wohlstand, der über die Grundbedürfnisse hinausgeht, uns nicht glücklich macht, aber unsere Umwelt zerstört. Diesem überflüssigen Wohlstand sage ich hiermit den Kampf an.

 

In diesem Sinne: Fröhliche, filetfreie Weihnachten!

 

Julian Büchler

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