Ein halbes Jahrhundert Zürcher Klagemauer

 Der aktuelle Jahresbericht der stadtzürcher Ombudsstelle steht im Zeichen des 50-jährigen Jubiläums. Der Bericht liefert neben Fallbeispielen auch einen differenzierten Blick auf die Rassismus-Debatte in der Stadt Zürich. 

 

Der jährliche Bericht des Zürcher Ombudsmanns an den Gemeinderat muss man sich ein wenig als Antithese zu Kafkas «Der Prozess» vorstellen: Mit jeder Seite werden die zum Teil opaken Prozesse innerhalb der Verwaltung auseinandergedröselt, anhand von Fallbeispielen wird gezeigt, dass Einzelne gegenüber bürokratischen Ungerechtigkeiten nicht ohnmächtig sind, sondern sich wehren können. 

 

Oder anders gesagt: Wahrscheinlich hätte der Ombudsmann ausfindig machen können, wohin sich Josef K. wenden muss, um endlich mehr über sein Gerichtsverfahren zu erfahren.

 

Es ist bereits der 50. Jahresbericht der Zürcher Ombudsstelle: Am 1. November 1971 öffnete sie als erste Ombudsstelle in der Schweiz ihre Tore (siehe auch P.S. vom 29. Oktober 2021). Um die Rolle des Ombudsmanns zu beschreiben, werden immer wieder Analogien bemüht: Ist er eine Art Dorfältester, der mit kühlem Kopf heisse Eisen aus dem Feuer holt? Oder ist er, wie Mischa Schiwow (AL), Gemeinderatspräsident des vergangenen Amtsjahres, in seiner Grussbotschaft schreibt, eine Klagemauer, mit dem sich der damalige Stadtpräsident Sigmund Widmer alle wütenden BürgerInnen vom Hals geschafft hat? 

 

Der aktuell vierte Ombudsmann Pierre Heusser, der seit 2020 im Amt ist, beschrieb sein Rollenverständnis gegenüber P.S. so: «Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich die BürgerInnen und die Verwaltung auf Augenhöhe begegnen können.»

 

Knausrige Verwaltung

Dieses Bedürfnis, der Verwaltung auf Augenhöhe begegnen zu können, scheint ungebrochen hoch: Die Anzahl der grossen Fälle, in denen die Ombudsstelle vermittelt hat, blieb im Vergleich zum Vorjahr konstant. Während die kleineren Fälle abgenommen haben, stiegen die Kontakte der Ombudsstelle mit der Verwaltung deutlich. Insgesamt ergaben sich so 3789 Kontakte mit Ratsuchenden. Wie in den Vorjahren betrafen die meisten Geschäfte und Anfragen das Sozialdepartement, das Sicherheitsdepartement und das Gesundheits- und Umweltdepartement. Weil 40 Prozent der behandelten Beschwerden von städtischen Angestellten selbst stammen, liefert der Bericht einen Überblick über das Personalrecht. 

 

Ein Fall, der sich innerhalb der Verwaltung abspielte und durch die Ombudsstelle mediiert wurde, drehte sich um die «Corona-Prämie». Ein solche versprach die Stadt im Frühling 2020 all jenen Mitarbeitenden, die während der Pandemie besonders belastet wurden. Als Frau Neumann (Name durch Ombudsstelle anonymisiert) im Sommer 2021 immer noch keine Prämie erhalten hatte, rief sie bei der Ombuds­stelle an. Das Problem: Ende November 2020 wechselte Frau Neumann stadtintern von der Stiftung Alterswohnungen nahtlos zu einem städtischen Alterszentrum – und weder ihre aktuelle noch ihre frühere Arbeitgeberin wollten ihr die Zulage auszahlen. 

 

Erst nach Abklärungen der Ombuds­stelle beim Rechtsdienst des Gesundheits- und Umweltdepartements erhielt Frau Neumann dann schliesslich Ende 2021 doch noch ihre verdiente Corona-Prämie. 

 

Betroffenenperspektive

Auch neben den Fallbeispielen ist der 80-seitige Jahresbericht der Zürcher Ombudsstelle für einen Behördenbericht erfrischend lesenswert. In einem längeren Abschnitt befasst sich dieser auch mit der Frage, wo die Stadt Zürich bei der Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung steht. Die Ombudsstelle kann hier offensichtlich aus der eigenen Erfahrung schöpfen, das Untersuchen von Diskriminierungen aller Art gehört zu ihren Aufgaben. In dieser Funktion war der Ombudsmann etwa mit beratender Stimme Mitglied der Projektgruppe «Rassismus im öffentlichen Raum», die in ihrem Bericht an die Stadt Möglichkeiten für den Umgang mit den rassistischen Häusernamen im Niederdorf skizziert hatte. 

 

Positiv und fortschrittlich ist, dass der Ombudsmann die Wichtigkeit der Betroffenenperspektive anstelle der Motivation des Sprechenden ins Zentrum stellt: «Es ist nicht primär massgebend, ob ich rassistische Gedanken habe, wenn ich eine Schokoladenschaumspeise als M-Kopf bezeichne, sondern entscheidend ist, ob mein Gegenüber diese Aussage als rassistisch wahrnimmt.» 

 

Genau wegen dieser fortschrittlichen Definition von Rassismus, und das ist der einzige Kritikpunkt, irritiert die Feststellung, dass Zürich «im nationalen, und wohl auch internationalen Vergleich» sehr gut dastehe, weil die Projektgruppe das Thema ernst nehme und «mit konkreten Massnahmen gegen Rassismus vorgeht». Der Satz scheint vor allem zur Gewissenberuhigung der lesenden PolitikerInnen dazustehen. Denn: Die konkreten Massnahmen, die der Ombudsmann als Beleg für die Aussage anführt – Umgang mit den Häusernamen im Niederdorf, Sensibilisierung der Stadtpolizei auf «Racial Profiling» –, werden von Betroffenenorganisationen nach wie vor als unzureichend kritisiert. 

 

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