«Die Vorstellung, dass Einbürgerung schwierig sein muss, ist verkehrt»

Obwohl das Fokusthema ‹Föderalismus› an den Aarauer Demokratietagen eher trockene Vorträge zur hiesigen Staatsform vermuten liess, zeigten die Referent:innen der wissenschaftlichen Tagung, dass die Art und Weise, wie die Schweiz aufgebaut ist, weitreichende Auswirkungen auf den ganzen Verbund haben kann. Die Juristin Barbara von Rütte von der Universität Basel und der Schwyzer SP-Kantonsrat und Jurist Elias Studer haben das am Beispiel der Einbürgerung aufgezeigt – und im Gespräch mit Sergio Scagliola näher erklärt.

Barbara von Rütte, Sie haben in ihrem Vortrag von einem Demokratiedefizit gesprochen. Wie entsteht das und ab wann wird es zum Problem?

Barbara von Rütte: Ein Demokratiedefizit entsteht, wenn so viele Leute vom demokratischen Prozess ausgeschlossen sind, dass die getroffenen Entscheidungen die betroffenen Personen nicht mehr legitim repräsentiert. Wann dieser Punkt genau eintritt, lässt sich nicht absolut sagen. Es kann bereits ein Problem sein, auch wenn man nur ein Prozent der Bevölkerung ausschliesst. Demokratisieren muss man sowieso, aber die Probleme werden grösser, je mehr Personen ausgeschlossen sind. Wir haben das Demokratieproblem, dass ein Viertel der Wohnbevölkerung in der Schweiz das Bürgerrecht nicht hat und in dem Sinne nicht mitbestimmen kann. Das ist nicht in Stein gemeisselt – aber Veränderung diesbezüglich auch nicht unbedingt eine Tendenz. 

…und wenn, dann sind es eher Verschärfungen – weil der Bund Mindestvorgaben macht, die von den Kantonen faktisch fast nur verschärft werden können, oder?

B.v.R.: Was wir gesehen haben, ist, dass sich die Revision des Bürgerrechtsgesetzes des Bundes an den restriktiven Kantonen orientiert hat – und viele dieser restriktiven Kantone dann noch einen Schritt weiter gegangen sind. Natürlich gibt es Kantone, die eine lockerere Praxis haben. Vielleicht gibt es auch einen kleinen Gegenreflex – z.B. in den welschen Kantonen, die an Verschärfungen gar nicht interessiert sind, weil sie sagen, das Bundesrecht regle die Einbürgerung schon jetzt genug detailliert. Also gibt es schon eine Tendenz zur Verschärfung insgesamt über die Ausformulierungen bei den Kantonen. 

Elias Studer: Zum Beispiel im Aargau wurden durchaus Vorstösse für Verschärfungen angenommen – aber wichtig finde ich, dass auch eine gegenläufige Tendenz existiert. Wenn man die Rechtsprechung anschaut, werden zu harte Vo­raussetzungen für die Einbürgerung auch wieder unterbunden.

Durch das Bundesgericht?

E.S.: Oder durch kantonale Verwaltungsgerichte. 

B.v.R.: Die Gerichte haben eine zentrale Rolle, aber ich finde es eigentlich sehr problematisch, wenn man sich auf das Gericht als Korrekturmechanismus verlassen muss, der das Verhältnismässigkeitsprinzip durchsetzt. Eigentlich müsste man ein Einbürgerungsregime haben, das nicht darauf angewiesen ist, dass betroffene Leute Beschwerden erheben, Geld und Energie aufwenden oder sich Wissen aneignen müssen – potenziell ihre Beschwerde vor Bundesgericht ziehen müssen. Eigentlich müssten bereits die erstinstanzlichen Verfahren so ausgestaltet sein, dass es ‹verhebed›. Also: Gerichte sind ein wichtiger Korrekturmechanismus, aber dass wir diesen Korrekturmechanismus brauchen, ist an sich eine verpasste Chance. 

Wenn der Prozess politisch in den einzelnen Kantonen immer wieder neu ausgehandelt wird, welche Kriterien nun gelten – hat das eine Strahlwirkung auf andere Kantone? Zum Beispiel durch Verschärfungen in einem Nachbarkanton einer Region, die Einbürgerung eigentlich locker handhaben will. 

E.S. Diese Wirkung gibt es insofern natürlich darüber, dass Leute mit ähnlichen Einstellungen bei einem Erfolg in anderen Regionen versuchen werden, diese Idee auch bei sich einzubringen. Was ich sehr krass finde – wenn ich von der Frage abweichen darf – ist: Viele Menschen, auch in den Parlamenten, haben ein Bild von kriminellen oder sozialhilfeempfangenden Ausländern im Kopf, und deshalb das Gefühl, dass sie harte Voraussetzungen schaffen müssen, damit nicht die ‹Falschen› eingebürgert werden. Aber wenn man sich anschaut, was die Wirkung ist, trifft es eben die ‹Richtigen›, die ‹integriert› – was auch immer man von dieser Voraussetzung halten möchte – sind. Als Beispiel ein Fall: Ein Wirt aus Goldau – Sponsor des lokalen Fussballvereins, im Skiclub aktiv, jeder Verein hat seine GV in seinem Restaurant. Dieser Wirt hatte im Verkehr Sekundenschlaf und ist dabei in einen Pfosten hineingefahren. Aufgrund dieses Delikts ist er von der Einbürgerung ausgeschlossen. Wenn man mit ihnen den konkreten Einzelfall anschaut, sind dann auch Leute von der Mitte bis zur SVP nicht mehr unbedingt gegen eine Einbürgerung.

Und das ist ein typischer Fall?

B.v.R.: Es ist zumindest etwas, was sich im ganzen Migrationsrecht zeigt. Es gibt das Phänomen, dass immer im Abstrakten gedacht wird – das zeigt sich auch in wissenschaftlichen Studien. Abstrakt gibt einen Anteil der Bevölkerung, der für Restriktionen, für Verschärfungen ist, der ein Bild vom kriminellen Ausländer hat. Immer wenn es aber um konkrete Fälle geht, um die Nachbarsfamilie, die nicht eingebürgert werden kann, um den Wirt im Dorf, der aufgrund einer Bagatelle nicht eingebürgert wird, dann finden alle den Prozess wieder unsinnig. In der Abstimmung allerdings nicht unbedingt. Da hat man dann eher das Gefühl, das Schweizer Bürgerrecht sei ein Privileg, das man sich verdienen muss, das nicht jede:r bekommen kann – wenn aber eine Geschichte in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, wird die Absurdität der Einbürgerungspraxis dann wieder beklagt. Das ist schon ein wenig schizophren. 

E.S.: Man hat das falsche Bild, wenn man über die Kriterien bestimmt – und die persönlichen Berührungen mit der effektiven Anwendung werden ausgeblendet. 

Wieso ist das so?

E.S.: Ich glaube, negative Emotionen oder auch rassistische Vorurteile, die man hat, sind oft stärker als die Reflexion darüber, wie unfair ein konkreter Fall ist, den man am Rande mitbekommt. Oder vielleicht machen sie die Leute einfach emotionaler, gehen ihnen näher, weshalb dann so ab­strakt abgestimmt wird. 

B.v.R.: Es gibt die Vorstellung, dass das Schweizer Bürgerrecht ja leicht zu bekommen ist – obwohl die Forschung klar zeigt, dass das in der Schweiz sehr schwierig ist.

Gleichzeitig wird das Einbürgerungsverfahren von vielen als erniedrigend wahrgenommen…

E.S.: Ja, das ist so. Wenn es um Einbürgerung geht, höre ich von vielen Freunden, die mit Schweizer:innen in die Schule sind, aufgewachsen sind etc., dass im Erwachsenwerden ein Punkt kommt, wo man plötzlich vor eine Behörde muss, Fragen zu Staatskunde beantworten muss, bezahlen muss, dann steht es noch im Amtsblatt, Leute können Eingaben machen, wenn sie finden, irgendetwas an mir ist schräg – ich glaube, das ist das Erniedrigende. Diese Menschen sind genau gleich hier aufgewachsen wie alle anderen, aber plötzlich muss man als Bittsteller:in vor eine Behörde. Und die Leute in dieser Behörde haben dann das Gefühl, sie könnten über dein Leben urteilen, sagen, was gut und was schlecht ist an dir.

Der zentrale politische Kampfbegriff hier ist Integration. Dem gegenüber steht ein Einbürgerungsregime, das die Integration oder mindestens die Motivation dazu eher zu sabotieren als zu fördern scheint. Ist das ein systemisches respektive institutionelles Problem?

E.S.: Auf jeden Fall, ja. Es gibt eine Studie, die analysiert hat, wie gut Menschen integriert sind, deren Einbürgerung an der Gemeindeversammlung knapp abgelehnt wurde im Vergleich zu Leuten, die knapp angenommen wurden. Sie zeigt, dass einige Jahre später die Leute, die eingebürgert wurden, besser integriert sind als die anderen. Wenn man will, dass Migrant:innen möglichst gut integriert werden, zu einem Teil der Gesellschaft werden, wäre die Lösung, Einbürgerung einfacher bzw. nicht zu schwierig zu machen. Die Vorstellung, dass Einbürgerung schwierig sein muss, damit sich Leute integrieren, ist verkehrt. 

 Inwiefern wir Integration verlangen dürfen, lasse ich mal offen. Aber wenn die Kriterien so streng sind, wird tatsächliche Integration nicht einmal anerkannt. Das ist der Grund, warum die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts überhaupt existiert: Weil schlussendlich in den Einzelfällen Leute abgelehnt werden, die perfekt integriert sind, aber aufgrund willkürlicher Kriterien, sei das eine Betreibung von vor 6 Jahren oder Sekundenschlaf am Steuer, die Einbürgerung verwehrt bekommen. Ob eine Person tatsächlich integriert ist oder nicht, spielt bei diesen harten Killerkriterien gar keine Rolle. 

Auffällig ist auch, dass Menschen aus den EU/EFTA-Staaten hier klare Vorteile im Einbürgerungsprozess haben. Wie wird das rechtlich legitimiert?

E.S.: Also eigentlich ist es ja nicht legitimiert. Die Vorstellung ist, dass man Schritt für Schritt mit besserer Integration immer einen besseren Status bekommt. Man hat zuerst das B, dann das C und dann die Einbürgerung. Und ich glaube ehrlich gesagt, das Parlament hat sich wahrscheinlich bei der Einbürgerung nicht überlegt, dass der Weg zum C sehr unterschiedlich sein kann.

Welche Rolle nimmt das neue Bürgerrechtsgesetz von 2018 denn ein? 

B.v.R.: Es hat die Regelung verschärft. Die C-Bewilligung ist nun Voraussetzung. Vorher konnte man unabhängig vom Status nach zwölf Jahren Anwesenheit die Einbürgerung beantragen. Das neue Gesetz erweitert also diesen Gedanken, dass man sich das Bürgerrecht erarbeiten muss.

E.S.: Das Problem ist, dass nicht alle gleich schnell das C haben. Nehmen wir beispielsweise ein Kind von kurdischen Geflüchteten, die nur vorläufig aufgenommen wurden (Status F). Das Kind ist mit drei Jahren in die Schweiz gekommen, seine Eltern hatten ab und zu einen Job, dann wieder nicht mehr, waren vielleicht zeitweise auf Sozialhilfe angewiesen. Dieses Kind erhält das B erst mit dem Lehrabschluss oder der Matura. Dann muss man noch fünf Jahre warten, bis man das C hat, bevor man überhaupt die Einbürgerung beantragen kann. Man kann sich also erst mit 24, 25 Jahren einbürgern. Das, obwohl man als Kleinkind in die Schweiz gekommen oder sogar hier geboren ist. 

In der Schlussdiskussion nach Ihren Vorträgen wurde die Frage aufgeworfen, inwiefern wir überhaupt eine Willkommenskultur haben oder wollen. Also eigentlich haben wir keine?

B.v.R.: Was wir haben und was wir wollen, sind die zwei entscheidenden Fragen. Was wir wollen, kann ich nicht sagen – aber was wir momentan haben, ist ein Regime, das davon ausgeht, sich die Einbürgerung verdienen zu müssen. Das fängt z.B. damit an, welche Formulare verfügbar sind, wie einfach man das Einbürgerungsgesuch einreichen kann, ob Leute, wenn sie die rechtlichen Voraussetzungen z.B. bezüglich Wohnsitzdauer erfüllen, aktiv angeschrieben werden etc. Ich glaube, was man definitiv sagen kann, ist, dass wir eine Kultur haben, die nicht besonders willkommenheissend ist. 

E.S.: Ich glaube, das Absurde am Ganzen ist, dass Mitte-Rechts findet, es braucht mehr Inte­gration, aber Mitte-Rechts ist gleichzeitig die Seite, die Integration durch ihre ablehnende Haltung verunmöglicht. Wenn wir Integration wollen, müssen wir auf Migrant:innen zugehen, uns mit ihnen austauschen. Wir müssen mit ihnen den Alltag auf Augenhöhe verbringen, damit Integration passiert.

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