«Bis anhin war es ein Wegschauen»

Über 100 000 Menschen in der Schweiz leben ohne Papiere, ohne soziale Absicherung. Die Corona-Krise traf sie mit voller Wucht. Als Leiterin der Anlaufstelle für Sans-Papiers Zürich (SPAZ) hat Bea Schwager schwierige Monate hinter sich. Warum sie sich aber ob viel Solidarität aus der Bevölkerung freuen kann und wie die Verteilung der Nothilfe möglich war, erklärt sie im Gespräch mit Anatole Fleck.

 

Bea Schwager, Sie leiten die Sans-Papiers- Anlaufstelle Zürich (SPAZ). Wie haben Sie die letzten Wochen und Monate erlebt?

Bea Schwager: Extrem hektisch, extrem anstrengend. Die Arbeit im Homeoffice verunmöglichte mir den direkten Kontakt mit den Sans-Papiers, aber meine KollegInnen und ich wurden schon zu Beginn dieser Krise fast überrannt von Menschen, die ihre Arbeitsstelle verloren haben – ab sofort kein Einkommen mehr hatten. Und weil sie, auch wenn sie arbeiten, meist nur 1000 bis 1500 Franken im Monat verdienen, können viele Sans-Papiers keine Rücklagen machen. Ohne Erspartes fehlt aber per sofort Geld für Lebensmittel, Miete und die Krankenkasse. Bei jenen, die sich überhaupt eine Krankenkasse leisten können.

 

Am 16. März 2020 wurde vom Bundesrat die «ausserordentliche Lage» ausgerufen, seit bald drei Monaten hat Corona die Schweiz fest im Griff. Was heisst es, inmitten der Pandemie ohne Papiere zu sein? Wie sehen Sie die Lage für die Sans-Papiers?

Nebst dieser extremen ökonomischen Notlage in welcher sich viele Sans Papiers befinden, war die starke Polizeipräsenz im öffentlichen Raum auch eine grosse Schwierigkeit. Viele haben sich fast gar nicht mehr in den öffentlichen Raum getraut, den Gang vor die Tür aufs absolute Minimum beschränkt. Das erschwert die Quarantäne natürlich auch menschlich – viele Sans-Papiers leben zu zweit oder zu dritt in einem Zimmer, in beengten und prekären Wohnsituationen. Kurzum: Es war eine äusserst schwierige Zeit für diese Menschen.

 

Sie haben es bereits angesprochen: Police, Franchise, Selbstbehalt – viele Sans-Papiers können sich keine Krankenkasse leisten, es fehlt also auch die gesundheitliche Absicherung. Schrecken die Kosten auch in der Corona-Krise vor einer medizinischen Behandlung ab?

In der Stadt Zürich nahmen die städtischen Gesundheitsdienste zum Glück gleich am Anfang der Covid-Krise mit uns Kontakt auf und versicherten, dass die Sans-Papiers in dieser Zeit keine Krankenkasse mehr brauchen, wenn sie Spitalbehandlung nötig haben. Nur wissen das natürlich die wenigsten Sans-Papiers. Und es ist generell so, dass sie sehr zurückhaltend und vorsichtig sind, wenn es um die Inanspruchnahme von ärztlicher Hilfe geht. Angst macht neben der Kosten auch die allfällige Meldung an die Behörden. Im Falle dieser Krise mussten wir feststellen, dass vor allem eine riesige Verunsicherung vorhanden ist – diese Menschen wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Offenbar sind die Informationen des Bundes in vielen Fällen nicht bis zu den Sans-Papiers gelangt. Das liegt auch daran, dass diese anfangs nur in den vier Landessprachen verbreitet wurden.

 

Wie trägt man diese gesundheitlichen Informationen denn an die Sans-Papiers heran?

Für Gesundheitsfragen konnten wir die Betroffenen an die Meditrina, die Medizinische Anlaufstelle für Sans-Papiers des Roten Kreuzes weiterleiten. Dieses Ambulatorium berät Sans-Papiers in medizinischen Fragen, bietet Grundversorgung und vermittelt auch weiter an andere Stellen. Diese Arbeit hat die Meditrina geleistet.

 

Was bedeutete das Umschalten auf Krisenmodus denn für die Arbeit der SPAZ? Wie können Sie bei der Anlaufstelle helfen? 

Nun, die normale Beratungstätigkeit kam in letzter Zeit praktisch vollständig zum Stillstand. In den Telefonberatungen drehte sich alles um existenzielle Fragen rund um die Nothilfe. Diese konnten wir dann auch ausrichten. Doch da kamen die Menschen dann halt trotzdem direkt zu uns in die Anlaufstelle. Zum Teil gab es dann Warteschlangen von Verzweifelten. Da mussten wir uns komplett reorganisieren – damit die Abstandsregeln eingehalten werden können. 

Das heisst: Wir konnten diese Nothilfe auch nicht bei uns im Büro ausrichten, weil das viel zu wenig Platz bietet. Glücklicherweise konnten wir auf das Kirchengemeindezentrum St. Jakob ausweichen. Das logistisch zu organisieren – sodass die Mindestabstände eingehalten werden und sich keine Ansammlungen von Bedürftigen bilden – war sehr aufwändig. 

 

Ein Grossteil der Notmassnahmen wurde am 11. Mai 2020 wieder aufgehoben, nun sind im Juni weitere Öffnungen erfolgt – ist das ein gleich grosser Schritt vorwärts für die Sans-Papiers? Entspannt sich die Lage?

Einzelne Betroffene haben wieder begonnen zu arbeiten, dort sieht man eine gewisse Entspannung. Und es werden wieder andere Themen an uns herangetragen – zum Beispiel Sans-Papiers, die heiraten wollen (lächelt), die sich wieder um solche Dinge kümmern können. Auch für unsere Arbeit ist die Lage anders: Seit dieser Woche sind wir wieder zu Beratungen vor Ort, in der Anlaufstelle zurückgekehrt. Aber wie genau sich die Öffnungen auswirken, werden wir erst sehen.

 

Sans-Papiers übernehmen vielerorts schlecht bezahlte Jobs, sie bauen Häuser, putzen, kochen, kümmern sich um Kinder. Nun droht auch auf dem Arbeitsmarkt eine längere Krise. Wie könnte sich diese auf Menschen ohne Papiere auswirken? Sieht man bereits Folgen?

Ich kann nicht sagen, wie viele dieser Menschen zu ihren Arbeitsstellen zurückkehren können. Was ich beobachte: In Privathaushalten konnten die Leute da und dort wieder stundenweise zu arbeiten. Aber es ist natürlich fraglich, wie viele sich noch Hausangestellte werden leisten können. Sorgen mache ich mir vor allem um jene Sans-Papiers, die in der Gastronomie arbeiten. Schon vor der Krise wurden sie dort oftmals nur auf Stundenbasis eingesetzt, auf Abruf. Das sind natürlich die ersten Jobs, die wegrationalisiert werden, wenn man sparen muss.

 

Ihre Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich hat mit dem Verein Zurich City Card einen Spendenaufruf gestartet – rund 100 000 Franken kamen zusammen. Das ist doch eine beeindruckende Summe? Wie konnte dieses Geld eingesetzt werden? 

Ja mittlerweile sogar mehr! Das war wirklich schön, eine Welle der Solidarität – jetzt nicht nur auf diese spezifische Aktion bezogen, sondern auch auf sonstige Spenden, die bei uns eingegangen sind. Grundsätzlich sammelten wir Geld für Lebensmittelgutscheine und die Übernahme von Krankenkassenprämien. Dann sind sowohl die Städte Zürich und Uster wie auch der Kanton an uns herangetreten, haben nachgefragt, wie die Situation bei den Sans-Papiers sei. Auch sie boten dann grosszügige finanzielle Unterstützung.

 

Sie haben zwischenzeitlich die Verteilung dieser finanziellen Hilfe unterbrochen, weil Sie neu bewerten mussten, «wie mit der Arbeit fortzufahren ist». Was heisst das genau?

Nun, wir sahen uns plötzlich mit der Situation konfrontiert, dass sehr viele Menschen zu uns gekommen sind, die wir noch nie gesehen haben. Ein Problem dabei ist, dass sich Sans-Papiers natürlich nicht als solche ausweisen können. Darum mussten Abklärungen getroffen werden, bevor wir irgendwelches Geld auszahlen konnten. Und dazu mussten wir den Prozess neu aufgleisen. 

 

Wie geht man dabei vor? War das nicht enorme administrative Arbeit? 

Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir nur den uns bekannten Menschen direkt Nothilfe auszahlen. Alle anderen haben wir separat zu ersten Gesprächen eingeladen und auch gewisse Nachweise verlangen müssen, Fakten da und dort auch nachgeprüft. Nach dem ersten Gespräch wurde noch kein Geld ausbezahlt, erst bei einem zweiten Treffen. Das war eine sehr schwierige Situation. Als BeraterInnen gerieten wir plötzlich in eine Art Kontrollfunktion. Geld zu verteilen kann auch sehr unangenehm sein.

 

Über das Monetäre hinaus, wie beurteilen Sie die Solidarität aus der Bevölkerung? Was bewegt sich da?

Viele Menschen haben aufmunternde Briefe an Sans-Papiers geschrieben, boten an, Kinder zu hüten, wenn die Elternteile am arbeiten waren – denn Schule fand ja nicht mehr statt. Das sind wirklich schöne Zeichen der Solidarität, diese Bereitschaft, sich neben Finanziellem solidarisch zu zeigen, haben wir stark gespürt. Die Anliegen dieser Menschen wurden in der Krise besser sichtbar. Wir hoffen jetzt natürlich, dass dies endlich politisch zu einer ganz grundlegenden Verbesserung der Situation führen wird.

 

Stichwort Sichtbarkeit: Aus Genf gingen schockierende Bilder durch die Schweiz von Menschen, die vor dem Eishockeystadion in kilometerlangen Schlangen für Essensrationen anstehen mussten. Macht Zürich diesbezüglich etwas besser?

Hier wurde die Lebensmittelabgabe einfach viel dezentraler geleistet, und darum gab es nicht diese riesigen Schlangen wie in Genf. Und viele Sans-Papiers in der Deutschschweiz haben viel zu grosse Angst vor Polizeikontrollen, um in einer solchen Menschenmenge anzustehen. Darum haben wir hier die Hilfe vielleicht diskreter verteilt. Aber bei der Verteilung von Lebensmittelpaketen durch die Autonome Schule beispielsweise kam es auch zu langen Warteschlangen. Es gibt auch hier viele Menschen, die da anstehen, die in Not sind.

 

Der Kanton und die Stadt Zürich haben wie erwähnt reagiert, das aktuelle Kostendach für die Finanzierung des sogenannten Grundbedarfs beträgt 150 000 Franken. Aber die offiziellen Hilfsfonds von Bund und Kantonen berücksichtigen die Sozial- und Arbeitsverhältnisse dieser Menschen nicht – Arbeitslosengelder und Kurzarbeitsentschädigungen bleiben aus. Schläft der Bund?

Ja, das tut er. Die Unia hat ja bereits gefordert, dass auch die Sans-Papiers bei den Unterstützungsmassnahmen mitberücksichtigt werden – mittels eines Corona-Überbrückungsfonds. Aber dass der Staat jetzt Sans-Papiers unterstützt, das wäre vollkommen neu. Bis anhin war es ein Wegschauen: Man weiss, dass diese Menschen hier leben, aber niemand will sich grundlegend darum kümmern. Darum haben wir uns umso mehr gefreut, dass hier die Stadt und der Kanton bereit waren, Unterstützung zu leisten. Das ist so gesehen ein Novum.

 

Wir haben Menschen inmitten unserer Gesellschaft, die ohne soziale Absicherung leben und arbeiten. Sie sind nun sichtbarer geworden. Ist nun die Zeit erst recht reif für Veränderung? Kann die Krise auch etwas Positives auslösen?

Ja, ich denke es war sehr erfreulich, dass auch die Medien sich wieder vermehrt für die Sans-Papiers interessieren und so zur Sichtbarkeit dieser Menschen beitragen. Und ich wünsche mir, dass die Solidarität in Zeiten von Corona nicht nur eine momentane Regung war, sondern dass sie anhält. Und dass diese Solidarität schon bald Auswirkungen auf die Politik zeigt. 

 

Was wären Ihre konkreten Forderungen an die Politik? Was müsste getan werden, um den Sans-Papiers nachhaltig zu helfen?

Wie gesagt: Die nachhaltigste Hilfe wäre eine Regularisierung. So, dass diese Menschen dann nicht mehr einfach durch alle behördlichen Raster fallen. So, dass sie bei Arbeitslosigkeit auch von den staatlichen Unterstützungsstrukturen profitieren können. Natürlich hätten die Sans-Papiers dann auch viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was wir für den Moment fordern: Den uneingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem, keine Polizeikontrollen nach Aufenthaltsstatus und die Freilassung jener Sans-Papiers, die in Ausschaffungshaft sitzen. Denn momentan kann ja sowieso niemand ausgeschafft werden.

 

Zeigt die Corona-Krise, im Bezug auf die Zurich City Card, auch die vielen Vorteile einer Ausweismöglichkeit auf Stadtgebiet auf?

Ja, man hat jetzt in vielen Aspekten gemerkt, dass die Zürich City Card sinnvoll wäre. Um zu sehen, dass dies Menschen sind, die hier wohnen, die ein Recht auf Spitalhilfe haben. Oder eben auch mit Blick auf die Polizeikontrollen: Die Sans-Papiers hätten sich gegenüber der Polizei ausweisen können und nicht solch grosse Angst haben müssen, überhaupt vor die Türe zu gehen. Sie hätten sich freier bewegen können.

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