Beethoven und ich

Kürzlich hatte ich einen Traum. Ich war Glenn Gould und spielte in einem schmucken Konzertsaal vor einem sehr zahlreichen Publikum auf einem hübschen Flügel Beethoven. Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass Goulds Beethoven-Interpretationen höchst umstritten waren. In den Rängen erkannte ich denn auch die üblichen zwei Lager: Die Kritiker mit dem «Er macht es nicht so wie man soll wir haben es schon vorher gewusst und sind gekommen uns zu ärgern»-Blick, sowie, mir nicht weniger unangenehm, die Verehrer mit dem «Er ist grossartig wir haben es schon vorher gewusst und sind gekommen ihn zu feiern»-Blick.

 

Zum Schluss spielte ich die «Pathétique». Ganz im Gegensatz zum echten Glenn Gould bin ich ein großer Liebhaber dieser Sonate – was mich aber nicht von einer sehr freien Interpretation abhielt. Den ersten Satz begann ich wahnsinnig langsam und schwer, baute in den ersten paar Takten noch zusätzliche Verzierungen und Triller ein, um dann beim schnellen Thema so richtig abzugehen. Ich spielte wie im Rausch, improvisierte gelegentlich ein bisschen, und als Finale hängte ich dem Satz noch eine Strophe der Nationalhymne an, da mir diese als Inbegriff von Pathetik hier besonders passend schien. Im Publikum löste dies Verwirrung aus; einige Zuhörer standen auf und legten sich die Hand aufs Herz, andere schüttelten ihre Köpfe oder grinsten zustimmend. Beim zweiten, langsamen Satz sang ich lauthals mit, und zwar das wunderbare und durchaus passende Lied «Can’t help falling in love», das wir unter anderen von Elvis und UB40 kennen. Dies veranlasste einen Teil des Publikums, den Saal schimpfend zu verlassen, was die Verehrer-Fraktion mit gehässigem Zischen und «Ruhe!»-Raunen kommentierte.

 

Ob ich den letzten Satz überhaupt spielte, kann ich mich nicht erinnern. Der Traum geht weiter im Foyer, wo ich alkoholische Getränke zu mir nahm und Lob wie auch Tadel ohne Gefühlsregung an mir abtropfen liess wie den Regen am Gefieder eines Kanarienvogels. Da kam plötzlich Beethoven zu mir.

 

«Nette Vorstellung, junger Mann, durchaus nett.»

 

Ich war noch auf der Suche nach meiner Fassung, als er fortfuhr: «Es ist immer wieder interessant zu hören, was aus meiner Musik werden kann. Wenn einer nur genug Chuzpe hat. Ja, Chuzpe, junger Mann, Chuzpe, das können Sie sich merken!»

 

«Deshalb nenne ich mich ja auch einen Interpreten», erwiderte ich, «und nicht einen Sequenzer.»

 

Auf Beethovens Frage, was ein Sequenzer sei, erklärte ich ihm, es handle sich um eine Art Maschine zum Abspielen von Musik. Er lächelte, tätschelte mir gönnerhaft die Schulter und empfahl sich mit einem Brummeln.
Ich wachte auf und fühlte noch die Kränkung in mir. Ich war Glenn Gould, der meistverrissendste Beethoven-Interpret meiner Zeit – und alles, was ER mir zu sagen hatte, war ein gönnerhaftes Lob, wie für einen eifrigen Schüler. Erst beim Kaffee erholte ich mich langsam. Ich erinnerte mich, dass ich in meiner Kindheit tatsächlich Klavierunterricht gehabt hatte. An diesem Tag kündigte ich meine Stelle, kaufte ein gebrauchtes Klavier und begann zu üben. Den Anfang machte ich mit dem zweiten Satz, der ist nicht gar so schnell. Die ersten acht Takte gehen schon leidlich, nur mit dem Singen hapert es noch.

Markus Ernst

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