Die Welt zuerst
In der Schule gab es damals diese Stundentafel. Fast immer war sie schwarz und weiss. Sie war der langweiligste aller langweiligen Aushänge im Eingang unserer Kantonsschule. Trotzdem schauten wir jeden Morgen darauf. Denn die Stundentafel barg eine Hof fnung, die Hoffnung auf Freistunden, die Hoffnung, dass der Tag für einmal anders werden würde. Fiel eine Stunde dann tatsächlich aus, war sie auf der Tafel rot durchgestrichen.
Dominik Gross
Was die roten Striche auf der Stundentafel unserer Schule waren, ist die Linke in der Politik. Meistens gibt es nicht viel zu feiern, aber das Fidele der Linken ist eben eine Hoffnung: Dass es ab und zu anders werden könnte als befürchtet – trotz allem. Dabei entscheidet nicht die eine oder andere Partei darüber, was Links ist, sondern ein bestimmter Blick: «Was heisst Nicht- Links-sein?», fragte der französische Philosoph Gilles Deleuze im Monstergespräch «L´Abécédaire» mit Claire Parnet von 1988. «Nicht-Links -Sein ist ein bisschen wie ein Briefkasten: Von sich selbst ausgehen. Die Strasse, die Stadt, das L and, immer weiter weg. Man beginnt bei sich, und als Privilegierte, die in einem reichen Land leben, fragt man sich: Wie können wir dafür sorgen, dass die gegenwärtige L age andauert? Links -Sein ist das Gegenteil: Man nimmt zuerst den Horizont in den Blick.» Der Horizont ist das mögliche Andere, die Welt, die Hoffnung auf Veränderung, der freie Tag – der Horizont ist Links.
Was sehen wir also, wenn wir vom Horizont aus auf die Schweiz blicken? Zum Beispiel den grössten Rohstoffumschlagplatz und immer noch das grösste Vermögensverwaltungszentrum der Welt: Es verwaltet auch nach der Krise etwa zwei Billionen Dollar. Die hiesige Nahrungsmittelspekulation verschärft Hungerkrisen, die Vermögensverwaltung der Banken die globale Ungleichheit.
Sahnehäubchen-Ureinwohner
Die Schweiz ist das Sahnehäubchen auf dem goldenen Pudding der reichen Länder der Welt. Wenn Freiheit, Gleichheit und Solidarität einander gegenseitig bedingen, so muss die Schweizer Linke deshalb immer zuerst von der Solidarität ausgehen. Solidarität zuerst mit allen, die ausserhalb des Sahnehäubchens leben und sich nicht zu den Mitgliedern des Goldpuddings zählen können. Ob sie nun hierher kommen wollen oder nicht. Solidarität bis zum Horizont, aber auch gegen innen, jedenfalls jenseits der eigenen Briefkastenklappe. Mit denjenigen, die hier auf dem Sahnehäubchen leben, arbeiten und Steuern zahlen, vielleicht sogar hier geboren sind und trotzdem noch für Rechte kämpfen müssen, die für jene, die sich für die Sahnehäubchen-Ureinwohner halten, längst allzu selbst verständlich geworden sind.
Eine Initiative der Juso gegen die Nahrungsmittelspekulation ist auf dem Weg zur Abstimmung und eine, die international tätige Schweizer Konzerne zur Einhaltung von menschenrechtlichen Standards auch im Ausland verpflichten will, ist lanciert. A llerdings: In Abstimmungskämpfen, in denen die Linke an die (internationale) Solidarität der Stimmbür- gerinnen und Stimmbürger appellieren muss, und nicht einfach den Appetit der normalver- brauchenden Brief kastenschlitze schüren, beziehungsweise der Förderung des Portemonnaies des geheiligten Mittelstandes huldigen kann, scheitert sie fast immer. So et wa bei den Abstimmungen über ein Waffenausfuhrverbot, den Vorlagen zur erleichterten Einbürgerung für Secondas und Tertieros oder bei Versuchen zur Einführung des AusländerInnenstimmrechts in Kantonen und Gemeinden.
Verweis auf die Kraft des Faktischen
Wer unsolidarisch handelt, stellt sich über andere und greift deren Freiheit an. Wie verklickert das die Linke ihrer eigenen potentiellen K lientel? Vielleicht, in dem sie das Nationale als Bezugshorizont der Bürgerinnen und Bürger endlich überwindet.
Das SP-Wahlprogramm für den Herbst ist zwar ein solidarisches, aber eher eines, das sich für eine Solidarität im engen Raum zwischen den Briefkästen interessiert, als eines, das Solidarität von einem welthaltigen Horizont her denkt. Die Frage, wie das unerträglich wiederkehrende Sterben der Bootsflüchtlinge im Mittelmeer beendet werden kann, wird in den «zehn Projekten für eine gerechte, offene und solidarische Gesellschaft» nicht behandelt – obwohl die SP die Migrationsministerin stellt und sich die Schweiz als Schengen/Dublin-Mitglied an der europäischen Grenzschutzagentur Frontex beteiligt. Auch zur Frage, wie die SP die grassierende globale materielle (und rechtliche) Ungleichheit bekämpfen will, für die die Schweiz als globales Vermögens – und Handelszentrum eine grosse Mitverantwortung trägt, steht dort nichts.
Vielleicht würde der stetige Verweis auf die Kraf t des Faktischen weiterhelfen: Solange sich das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd nicht dramatisch reduziert, werden Menschen nach Europa kommen. Lange allerdings wird sich auch die Schweiz eine ignorante Politik gegenüber den drängenden Fragen der Welt nicht mehr leisten können. Die 200-jährige Dominanz des Westens in der Welt geht gerade zu Ende. Dieser Wandel wird früher oder später auch auf dem Sahnehäubchen ankommen. Das sollte uns aber nicht ängstlich, sondern neugierig machen. Neugierig auf den Blick vom Horizont her, mit Hof fnung auf den nächsten roten Strich.
Dominik Gross (34) ist zurzeit «Journalist in Residence» am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Ab Juli arbeitet er als Verantwortlicher für internationale Finanzpolitik bei Alliance Sud in Bern.
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