100 Jahre Radio – ein Denkanstoss

Mich hat der Jubiläumshinweis verblüfft. So jung? Und schon wird das klassische Massenmedium totgesagt: Es sei wie das Fernsehen etwas für ältere Leute. Das ist ein provozierender Denkanstoss für einen, der zwei Drittel dieser Zeit intensiv mithörte und über Jahrzehnte auf den kulturellen Wert vielseitigen Hörfunk(en)s hinzuweisen versuchte.

 

Hans Steiger

 

Der hundertste Jahrestag der ersten offiziellen Radiosendung in Deutschland wird erst Ende Oktober begangen. Die ehrwürdige englische BBC feierte ihren 100. Geburtstag im letzten Herbst, doch ihr jüngster Chef kündigte zu Neujahr an, im kommenden Jahrzehnt solle auf «online only» umgesattelt werden. Die gewohnten linearen Programme würden aufgegeben. Das hat offenbar auch Nathalie Wappler beflügelt, die seit 2019 als SRF-Direktorin in diesem Sinne wirkt. Mit zumal beim Kulturradio-Abbau eingespartem Geld liess sie Zukünftiges planen, und laut den SRG-News vom 3. Januar sieht das unter dem Motto ‹digital first› so aus: «Inhalte werden primär für digitale Plattformen produziert.» Das heisst, die Sendungen sollen in erster Linie für Websites, Social Media und eigene App-Angebote tauglich sein. Immerhin würden sie «danach für klassische Kanäle wie das Fernsehen aufbereitet». Passt das noch mit ihrem Service-public-Auftrag zusammen? Bestens, findet Frau Wappler, die diese Frage in einem eitlen You-Tube-Video sehr selbstsicher aufnimmt. In einer durchdigitalisierten Gesellschaft sei das der einzig mögliche Weg. Fort vom festen Programm, flexibel voran!

 

Ein bisschen Wehmut floss zwar im Herbst in die Berichte über den Umzug aller in Zürich wirkenden Radioabteilungen ein. Nach rund 90 Jahren im eher beschaulichen Brunnenhof wurden offenbar vor allem Archivbestände nach Leutschenbach transportiert, in die ‹Radio Hall› des vom Fernsehen dominierten SRF-Zentrums. Dorthin lädt notabene am 16. Februar der 1930 als Arbeiter-Radio-Bund der Schweiz gegründete ‹Arbus› – jetzt Vereinigung für kritische Mediennutzung – zur Besichtigung der technisch weitgehend neu ausgerüsteten Produktionsräume ein. Anmeldung wäre für Schnellentschlossene noch möglich.

 

Ein verstummtes Band im Archiv

Nun aber zum Buch, das den Anstoss zu diesem Text gab: «Radiozeiten» von Stephan Krass. Ich hatte mich wohl übertrieben darauf gefreut und wurde entsprechend enttäuscht. Zu klug, zu wenig spürbare Liebe zum jungalten Ohrenmedium. Die hundert Jahre «vom Ätherspuk zum Podcast» – so der Untertitel – werden ziemlich einseitig beleuchtet. Der einst beim Vorläufer des heutigen SWR selbst für Radioessays verantwortliche Autor hat für viele Kapitel damals verfasste Versuche genutzt. An einige konnte ich mich als Hörer sogar noch vage erinnern. Vier davon sind an Schriftstellern orientiert und zu gegebenem Anlass neu zusammengefügt. Schliesslich wirkt Krass inzwischen als Honorarprofessor für literarische Kunst. Plausibel ist der Einstieg mit Radio-Stücken und -Utopien von Brecht. Etwas ausufernd wirken die Abstecher zu Benn, Andersch oder zum «Frisch Radio». Aber neckisch ist es schon, zu erfahren, dass Max Frisch «sein erstes Hörspiel geschrieben habe, ohne je eines gehört zu haben». Wohl des raschen Verdienstes wegen. Allgemein galten öffentlich-rechtliche Sender als gute Sponsoren. Hinzu kommen spitze Hinweise auf eher problematische Passagen in Reportagen, die der junge Max dem Beromünster-Radio aus den USA lieferte, etwa über seine «Begegnungen mit Negern». Zu letzterer sei im Archiv noch ein Karton zu finden, auf dem der Originaltitel durchgestrichen und durch «Begegnungen mit Schwarzen» ersetzt wurde. Innen ein Zettel: «Gelöscht.» Die üblichen Angaben zu Autor, Aufnahmedatum, Länge und auch das Originalband wären vorhanden, «aber es ist verstummt». Natürlich lässt sich der Sinn einer gelöschten Tonkonserve bezweifeln. «Es sei denn, sie enthielte eine andere Botschaft.»

 

Über magische Augen und Pausen

Was mich selbst beim Gedanken an vergangene Radiozeiten nostalgisch stimmt, klingt bei Krass nur knapp und meist in Zitaten an. Mehrmals leuchtet «das berühmte magische Auge» auf, mit dem Hörerlebnisse langsam eingeleitet wurden und das beim Abschalten leise verglimmte. Bis kalte, zackige Transistoren die wärmenden Röhren ablösten. Schön auch die Betrachtung zum Verschwinden der ursprünglich eigentlich technisch bedingten Pausenzeichen. Mit ihnen seien uns nicht nur die oft seltsamen, aber vertrauten Zeichen «abhanden gekommen, sondern auch die Pause». Programmverantwortlichen von heute sei jeder Moment nicht gefüllter Sendezeit ein Horror, weil dann ab- oder umgeschaltet werde, Einschaltquoten sinken, Werbeeinnahmen verloren gehen könnten. Womit der Rückblick zügig den Problemen der Konkurrenz- und Podcast-Epoche näher rückt.

 

War das alles? Die immer mobileren Geräte, mit denen wir als Jugendliche lang verpönte Musik via Radio Luxemburg oder von Piratensendern einfangen konnten, werden erwähnt. Wie das Propaganda-Radio der Nazis den hoffnungsvollen Experimenten mit dem frischen Medium ein Ende setzte, wird gezeigt, der spätere Kalte Krieg im Äther gestreift. Aber es kommt kein Weltempfänger vor. Nichts erinnert an meine nächtelangen Reisen durch die Weiten der Kurzwelle. Militärputsch in Afrika quasi live, die sowjetischen Panzer vor dem Radiostudio in Prag … Deutschland bleibt im Zentrum. Über den Aufbau, den Auftrag und politischen Streit um den dort nach 1945 neu strukturierten Rundfunk ist zwar nicht viel zu erfahren, aber bei einem Blick in die Zukunft taucht auch hier die Frage auf, wie sich «das klassische Radio angesichts der nichtlinearen Formate» neu positionieren könnte. «Würden die Öffentlich-rechtlichen die Podcaster schlucken», wird ein Medienwissenschaftler zitiert, «wäre sofort deren wesentlicher Vorteil, die Offenheit, verloren.» Aber die ARD-Anstalten wollten und sollten natürlich nicht «geria­trisch austrocknen». Also werde jetzt mit eigenen Jugendformaten experimentiert, der Weg zum Publikum etwa über TikTok, Instagram und Snapchat gesucht. Womöglich könnte das ja funktionieren, doch zur «Programm-Logik der personalisierten Inhalte» gehöre, «dass am Ende jeder nur das bekommt, was er geordert hat». Offen bleibt, ob das alles noch dem Programmauftrag entspricht. «Ganz abgesehen davon, dass es oftmals bereichernd ist, etwas zu finden oder angeboten zu bekommen, was man gar nicht gesucht oder erwartet hat.»

 

Gegen jede mediale Einheitsmeinung

Mir scheint, präzis an dem Punkt wäre weiter nachzudenken, und darum blende ich hier die Streitschrift von Precht und Welzer über «Die vierte Gewalt» ein. Darin wollen sich die zwei medial meist gut Präsenten wohl vorab für die Schelte revanchieren, welche nach einem von ihnen mitunterzeichneten Brief an Bundeskanzler Scholz losgebrochen war. Es ging um Waffenlieferungen an die Ukraine. Die vorgetragenen Bedenken, obwohl in der Bevölkerung durchaus verbreitet, seien von praktisch allen tonangebenden Sendern und Zeitungen nur noch polemisch thematisiert worden. Das nicht, weil sie staatlich gelenkt oder einfach «Lügenpresse» wären, sondern weil sie sich hier selber als Leitmedien zu fühlen begannen. Die «bekenntnistrainierte und haltungsdesignte journalistische Zunft» habe angesichts des Krieges eine «Trivialwelt von Gut oder Böse, Richtig oder Falsch» präsentiert. Die zwei dabei Abgekanzelten – ein Philosoph und ein Sozialpsychologe – analysieren diesen Fall als exemplarisch. Um mehr Stoff für ihre Intervention zu haben, die als gebundenes Buch etwas aufgeplustert wirkt, beziehen sie Corona mit ein. Auch dort erschien Protestierenden die Medienmeinung gelenkt. Das ist ernst zu nehmen. Wo immer sich Konformismus breit mache, mediale Einheitsmeinung journalistische Qualität beeieinträchtigt, «wird es für die Demokratie gefährlich». Nicht nur in elitären Nischen gibt es immer mehr «Echokammern», die das Ringen um politische Lösungen behindern. Es sei erstaunlich, wie viele sich bei komplexesten Fragen «mit holzhackerischer Sicherheit ein Urteil zutrauen – und zwar meistens das gleiche». Nach der im Kern überzeugenden Kritik der digital angeheizten «Erregungsökonomie» las ich mit besonderem Interesse das letzte Kapitel, in dem gefragt wird, wie sich auch zivilgesellschaftlich mehr «Vertrauen herstellen» liesse. Da spiele der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der nach dem Zweiten Weltkrieg «aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer unabhängig informierenden und analysierenden Instanz für die Demokratie entstand», in der neuen Krisenlage eine wichtige Rolle. Freie, offene Medien gehörten zur «staatlichen Daseinsvorsorge», sie seien Teil einer «nicht marktfähigen Sphäre». Um sie zu stützen, dies eine der konstruktiven Visionen kurz vor Schluss, wären womöglich solide europäische Netzwerke zu schaffen.

 

Für allseits wehrhafte Demokratie

Für mich ist heute der Deutschlandfunk, der 1960 vor allem als Gegengewicht zur DDR-Propaganda gegründet wurde, ein modellhaftes Exempel für verantwortungsvolle, sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen wandelnde und emanzipierende Radioarbeit. Das nach der Vereinigung neu strukturierte Deutschlandradio konnte sich landesweit neben den regionalen ARD-Sendern halten, wurde mit nun drei werbefreien Programmen sogar ausgebaut. Eines davon setzt mit Standort Berlin stärker auf Kultur, bei ‹Nova› – wie der ursprüngliche DLF in Köln beheimatet – bekamen Wissenschaft und Jugend mehr Raum.

 

Charakteristisch für die Arbeitsweise ist die gemeinsam bestückte DLF-‹Denk­fabrik›, deren Thema im neuen Jahr «wehrhafte Demokratie» ist. Ein schillernder Begriff, der vielschichtig angegangen wird. Schon früh am 1. Januar machte eine historische Würdigung der ersten Nationalversammlung von 1848 den Anfang: «Die Revolution scheiterte, aber der Weg in den Parlamentarismus und zu den Grundrechten war beschritten.» Doch meist wird es um die Gegenwart gehen. Ein für entsprechende Features zuständiger Redakteur betont im Programm-‹Magazin›, dass das Publikum die Wahl des Schwerpunkts mitbestimmt habe. Mehr als 38 000 Personen beteiligten sich. Von den vier vorgeschlagenen Themen lag die als bedroht empfundene Demokratie «mit einem Vorsprung von nur 19 Stimmen vor ‹Wir können auch anders. Lernen aus der Dauerkrise›. Eine Rolle mag gespielt haben, dass die Zeit der Abstimmung mit dem Wahlkampf zum US-Kongress zusammenfiel». 

 

Auch der Intendant merkt im Editorial an, diese Thematik sei in vielerlei Hinsicht aktuell: «2023 wird kein einfaches Jahr, auch nicht für die öffentlich-rechtlichen Sender.» Die eng mit dem Erhalt der Demokratie verknüpfte Frage, wie der «Rundfunk der Zukunft aussehen soll, wird uns intensiv beschäftigen». Sie wird seit langem fast in jedem Heft aufgegriffen. Ja, der Deutschlandfunk widmet der Medienpolitik und -kritik sogar (werk)täglich um 15.30 Uhr eine halbstündige Sendung, in der auch die Selbstkritik ihren Platz hat. Wo gibt es so etwas sonst?

 

‹Link› zu SRF – optisch aufgefrischt 

Gut, auch im ‹Link›, dem Mitgliedermagazin der SRG Deutschschweiz, sind Spuren davon zu finden. Schwerpunktthema der jüngsten Ausgabe: Fiktion. Da geht es nicht nur um den Erfindergeist zwecks Zerstreuung. Auch von heiklen Fakes, schwierigem Faktencheck und vom schwindenden Vertrauen in den Journalismus ist die Rede. In den vorhergehenden Heften des Jahrgangs ging es vorab um Musik, um Barrierefreiheit sowie um publizistische Unabhängigkeit. Meist lohnt sich die Lektüre. Eine radikale Neugestaltung machte das einst eher biedere deutschschweizerische SRG-Trägervereinsblatt ab 2022 auch optisch attraktiver, und in diesen Tagen wird wieder intensiv für einen Beitritt zur formal eigentlich idealen Basis der grössten Medienproduzentin des Landes geworben. Ist neues Leben in die bilderbuchhaft demokratisch angelegte Organisation gekommen?

 

Mein etwas zwiespältiger Eindruck: Die aktuellen medienpolischen Probleme sind präsent, doch es wird darüber meist punktuell debattiert, philosophiert, über Zukünftiges spekuliert. Werden die neuen Wege auch sorgsam gestaltet und vom gesellschaftlichen Auftrag her geprüft? Zum konkreten Programm ist wenig zu finden, wobei hier mein Urteil ungerecht sein dürfte, weil mich vorab das Radio interessiert und dort vorab Hintergrundinformation und Kultur. Also nicht das, was der an der Fernsehstrasse 1-4 domizilierten Redaktion am nächsten liegt. Doch die dort neu errichtete ‹Radio Hall› wurde früh mit farbenfrohen Fotos und forschen Statements gewürdigt. «Zukunftsradio ist für mich Live-Radio, das nah beim Publikum ist und es durch den Tag begleitet», bekannte zum Beispiel der «Leiter Kanäle Radio», und zwar «mit diesem eigenartigen Mix aus Musik, Information und Unterhaltung». Auch der «Sound Designer SRF» sieht im neuen Umfeld «eine grosse Chance, mit alten ausgedienten Zöpfen zu brechen». Dieses schief geratene Sprachbild passt. 

 

Stephan Krass: Radiozeiten. Vom Ätherspuk zum Podcast. Verlag zu Klampen, Springe 2022, 256 Seiten, 30.50 Franken.

Richard David Precht und Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022, 288 Seiten, 22 Euro.

Das Magazin #01/2023. Herausgeber: Deutschlandradio. 84 Seiten. Digital abrufbar (und als Programmzeitschrift zu abonnieren) via www.deutschlandradio.de.

Link 4/2022. Mitgliedermagazin SRG Deutschschweiz. Schwerpunktthema: Fiktion. 32 Seiten. Auch ältere Ausgaben sind bei srgd.ch einzusehen.

 

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