Ohne Filter

Das Rahmenabkommen heisst jetzt InstA. So wie dieses soziale Medium, auf dem die Schönen dieser Welt ihre Selfies in schmeichelnde Filter eintauchen. Beim Rahmenabkommen sind jetzt die Filter weg: Es wurde integral veröffentlicht (auf Französisch, mit Zusammenfassung auf Deutsch). Der Bundesrat hat sich entschieden, den Text herauszugeben und die wichtigen Player dazu zu konsultieren. Für diesen Entscheid beziehungsweise Nicht-Entscheid wurde er von allen Seiten kritisiert. Fairerweise muss man allerdings sagen, dass er es praktisch nur falsch machen konnte.

 

Die ‹Arena› des Schweizer Fernsehens behandelte das Thema Rahmenabkommen gleich zwei Mal, und zwar in identischer Besetzung. Alt-Bundesrat Christoph Blocher und Gewerkschafter Corrado Pardini kämpfen Seite an Seite gegen das Rahmenabkommen. Zwei Frauen, Tiana Moser (GLP) und Laura Zimmermann (Operation Libero), dafür. Philipp Müller (FDP) und Filippo Lombardi (CVP) waren auch noch da. Das Bild, das hier vermittelt wurde, ist klar: Alt und verkrustet gegen jung und dynamisch. Auch medial wird dies verstärkt. Der allgemeine Tenor: Die Gewerkschaften sollen jetzt nicht ganz so blöde tun wegen den paar Tagen Anmeldefrist. Das kann man doch auch mit einer App machen.

 

«Nicht nur die Gewerkschaften, sondern grosse Teile der Linken sind der Kraft des Begriffs ‹Lohnschutz› erlegen und haben sich im buchstabengetreuen Erhalt der bestehenden flankierenden Massnahmen festgebissen», schreibt auch Michael Hermann in seiner Kolumne im ‹Tages-Anzeiger›. Tatsächlich gibt es innerhalb der Linken sogar eine recht hitzige Diskussion darüber, ob man jetzt für das Rahmenabkommen sei, wenn der Lohnschutz nicht verschlechtert wird, oder gegen das Rahmenabkommen, wenn es den Lohnschutz verschlechtert. Die Diskussion ist daher tatsächlich ein wenig unübersichtlich geworden. Die Gewerkschaften haben mit ihrer Nichtkommunikation durchaus auch dazu beigetragen.
Darum ist es vielleicht auch einmal Zeit, hier ein wenig Ordnung zu schaffen. Nach der gescheiterten EWR-Abstimmung 1992 erlebte die Schweiz eine Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit und Stagnation. Nach dem Abschluss der bilateralen Verträge ging es wieder aufwärts. Möglich gemacht hatte das Ende der Blockade der Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und Wirtschaft mit den sogenannten flankierenden Massnahmen (FlaM). Diese schützen sowohl Arbeitnehmende wie auch das Gewerbe vor Dumping – im gegenseitigen Interesse.

 

Weil das Lohnniveau in der Schweiz viel höher ist als im restlichen Europa, sind diese Massnahmen im Interesse aller. Die flankierenden Massnahmen haben dazu geführt, dass in der Schweiz die Lohnschere im letzten Jahrzehnt nicht im gleichen Ausmass auseinander geklafft ist wie in vielen anderen Ländern. Olivia Kühni nannte die FlaM in der ‹Republik› darum auch eine «Meisterleistung der Konsensdemokratie» und eine «Pioniertat»: «Sie haben uns im letzten Jahrzehnt vor einigen der explosivsten Probleme bewahrt, die im Moment viele europäische Länder quälen: Dequalifizierung von Handwerksberufen, Lohnzerfall am unteren Ende der Skala, steigende Einkommens­ungleichheit, extremistische Protestbewegungen.»
Damit hat der Lohnschutz entscheidend zum sozialen Frieden beigetragen und dazu, dass trotz hoher Zuwanderung die politische Lage hierzulande einigermassen entspannt geblieben ist. Es geht jetzt also um weit mehr als nur ein paar Tage oder um eine App.

 

Nun ist es tatsächlich so, dass die EU oder einige EU-Länder nur mässig Gefallen an den FlaM haben und dass man die Schweizer Position als Rosinenpickerei (nicht ganz zu Unrecht) empfindet. Auch aus diesem Grund ist der bilaterale Weg ins Stocken geraten. Das Rahmenabkommen sollte hier der Ausweg sein. Wenn man das Dokument liest, so sieht man, dass in anderen strittigen Punkten wie dem Schiedsgericht oder dem Unionsbürgerrecht nur noch wenige Differenzen bestehen. Nur bei den FlaM sind Anpassungen gewünscht: Eine Verkürzung der Frist von acht Tagen auf vier Arbeitstage, eine Reduktion der Kontrollen beziehungsweise eine periodische Überprüfung der Kontrollen und eine Abschwächung der Kautionspflicht. Es ist daher nicht ganz unerklärlich, warum die Gewerkschaften damit nicht zufrieden sind. Zumal es ihnen auch ums Prinzip geht: Für die flankierenden Massnahmen soll Schweizer Recht zuständig sein, es soll in unserer eigenen Kompetenz bleiben.

 

Ich kann mir gut vorstellen, dass man diese Abstriche beim Lohnschutz andersweitig kompensieren könnte. So gesehen könnte man mich auch in die «Ich bin für ein Rahmenabkommen, wenn der Lohnschutz nicht geschwächt wird»-Kolonne stecken. Welche Alternativen aber möglich oder sinnvoll sind, werden nicht medial, sondern von den Sozialpartnern ausgehandelt. Was mir aber missfällt, ist die unheilige Allianz jener, denen die flankierenden Massnahmen schon immer missfallen haben, weil sie den Arbeitnehmenden weder Rechte noch anständige Löhne zugestehen wollen, mit jenen jungdynamischen Kräften, die sich gerne vernunftsorientiert geben. Dabei können Operation Libero und die GLP vor allem darum so befreit aufspielen, weil sie keinerlei Verantwortung übernehmen müssen. Urbane, gut ausgebildete Junge betrifft es sowieso nicht. Und für die Mehrheitsfähigkeit einer Vorlage fühlen sie sich auch nicht zuständig. Wahlkampf ist legitim. Aber man darf es auch so benennen.

 

Die Schweiz und auch die EU tun gut daran, den sozialen Ausgleich nicht zu schwächen. Es braucht in der Schweiz keine gelben Westen und brennende Tonnen, um sein Missfallen kundzutun. Ein Nein an der Urne genügt hier. Auf das Argument, ihr müsst jetzt zustimmen, weil es sonst noch schlimmer wird, reagieren die Bürgerinnen und Bürger oft allergisch, das Nein zur USR III hat dies gezeigt. Einen weiteren – absolut wünschenswerten – Weg mit Europa wird es nicht geben ohne Einigung mit den Gewerkschaften und ohne soziale Zugeständnisse. Das zeigt die Vergangenheit. Wer diese in erster Linie als Ewiggestrige abtut, verbaut die Zukunft.

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