Widerspruch stärken

Der Rücktritt von SP-Parteipräsident Christian Levrat wird stark mit der Krise (‹Tages-Anzeiger›) oder dem Niedergang (NZZ) der SP in Zusammenhang gebracht. Ich finde auch, dass der Abtretende die Wahlniederlage mit dem Etikett «Klimawahl» etwas einfach erklärt und den Misserfolg etwas leicht unter den Teppich kehrt. Sein Hinweis, alle grossen Parteien hätten verloren, trifft zu, verschleiert aber gleichzeitig einiges. Die Wahlen 2019 zeigen einen deutlichen Linksrutsch. Trotzdem misslang es der SP, die auch für sie günstige Grundstimmung zu nutzen.

 

Ich würde es sogar deutlicher ausdrücken: Die SP vermasselte einen noch klareren Linksrutsch. Sie mobilisierte wenige NeuwählerInnen, es gelang ihr kaum, die sozialen Themen in den Vordergrund zu stellen. Weder ihre Krankenkasseninitiative noch ihr AHV-Deal mit den Steuern lockten viele zur Wahl. Wer bei der Umwelt einen Handlungsbedarf sah, wählte und das meistens grün, wer soziale Änderungen (oder der Schutz des Bisherigen) wünschte, sah in der SP nur bedingt eine handelnde Partei und verzichtete auf die Wahlteilnahme. Ohne Schuldzuweisung und ohne anderes Patentrezept: Die Wahlkampagne der SP verfehlte ihre Wirkung und dafür trägt die Parteileitung und damit auch der Parteipräsident einen wesentlichen Teil der Verantwortung.

 

Trotzdem finde ich den engen Zusammenhang zwischen der Wahlniederlage (die andererseits in der Bundespolitik insgesamt neue und attraktive Möglichkeiten eröffnet) und dem Rücktritt von Christian Levrat unpassend. Sie wird seiner Leistung während zwölf Jahren an der Spitze der Partei nicht gerecht. Abgesehen von den ersten Monaten (bis seine unglückliche Antrittsrede, an die sich kaum mehr jemand erinnert, zur Vergangenheit gehörte) war er als Parteipräsident unbestritten und erfolgreich. Seine mehrfache Wiederwahl erfolgte aus Überzeugung und er war und ist bei den Parteimitgliedern – auch wenn ihm das Gesellige eines Toni Brunners fehlt – geachtet und beliebt. Sein Einfluss in der Partei ist gross – auch weil er viel arbeitet. Seine Argumentationen überzeugten meist, selbst wenn man anderer Ansicht war.

 

Ich finde es ein grosses Verdienst, dass er jetzt noch den richtigen Zeitpunkt für seinen Rücktritt fand. Den hatte er – auch wenn dies nun unterschwellig angezweifelt wird und wenn er ihn lange mit sehr guten Gründen verschwieg – schon einige Zeit vor dem Wahltag festgelegt. Ich kann das insofern gut nachvollziehen, als ich vor gut zehn Jahren ähnlich zurücktrat: Als unbestrittener Präsident der SP der Stadt Zürich realisierte ich erstens, dass mir langsam die Energie ausging und dass zweitens die Partei einen Wechsel benötigte. Da wir vor der Wahl eines neuen Stadtpräsidiums standen, konnte und wollte ich die Wahlkampagne nicht als ‹lahme Ente› leiten. Ich hatte Glück: Corine Mauch schaffte die Wahl als Stadträtin wie erwartet und eher unerwartet auch als Stadtpräsidentin und damit glaubte man mir, dass ich den Rücktritt unabhängig vom Wahlresultat gegeben hatte.

Den Beweis für die Freiwilligkeit kann Christian Levrat nun nicht mehr antreten. Ich mache aber jede Wette , dass er im kommenden April problemlos als Präsident bestätigt worden wäre, wenn er nochmals kandidiert hätte; einige würden vielleicht leise bis halblaut murren.

 

Seine grosse Stärke ist sicher das Rechnen und das Voraussehen der Handlungen der andern. Niemand hätte aus der Position der objektiven Schwäche vor allem der letzten vier Jahre in Bern mehr herausgeholt als er. Inhaltlich versteht er sicher mehr von Wirtschaft als von Umwelt oder Gleichstellung. Aber er behindert beides nicht. Er ist zwar durchaus bestimmt und lässt Widerspruch (vor allem von den JungsozialistInnen) zu. Dass ihm recht wenig widersprochen wird, liegt viel eher daran, dass sich wenige getrauen, als dass er sich gegen Diskussionen wehrt. Zu einer langjährigen Präsidentschaft gehören Vertraute und für die übrigen das Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Auch wenn es nicht zutrifft. Er kommt aus der gewerkschaftlichen Ecke der Partei, er blieb ihr verbunden, aber die urbane Mittelschicht der Städte ist ihm nicht fremd; wohl aber die deutsche Sprache. Er kann zwar gut Deutsch, aber er wirkt in Diskussionen eher hölzern und seine Debattierkunst zeigt sich nur auf Französisch.

 

SP und Grüne gleichen sich in vielem. Derzeit erlebe ich – abgesehen vom Erfolg – einen zentralen Unterschied bei meiner montäglichen Berichterstattung über den Kantonsrat. In beiden Fraktionen dominieren SpezialistInnen aus den Spezialkommissionen. Zur Bildung sprechen immer die Gleichen, zu den Finanzen oder zur Sozialpolitik auch. Oft sind sie beruflich auch noch im jeweiligen Gebiet tätig. Der Rest der Fraktion liest während ihren Reden Zeitung oder bespricht draussen in der Halle ein Geschäft. Die Grünen haben mit der Umwelt und dem Klima ein Thema, das sie verbindet und an dem alle mitarbeiten. Der SP fehlt diese Gemeinsamkeit. Die Fraktion, aber auch die Partei gleicht eher einer Ansammlung von SpezialistInnen mit Anhang, die auch in den Medien ihr Thema dominieren. Und Neue, meist auch neue Ideen eher ausschliessen als fördern.

 

Die Medien, aber wohl auch die SP-Mitglieder sind sich einig: Auf Christian Levrat muss eine Frau aus der Deutschschweiz, möglichst jung, als SP-Präsidentin folgen. Eine Frau hat aktuell ein mediales Plus. Mir genügt dies allerdings nicht. Erstens ist die Partei im Gegensatz zu anderen nur sehr bedingt in einem Zugzwang: Mit Christiane Brunner und Ursula Koch standen bereits zwei Frauen an der Spitze. Zweitens und deutlich wichtiger: Das Präsidium verlangt sehr viel Zeit, vor allem an den Abenden und an den Wochenenden. Es verlangt oft ein Zurückstecken der eigenen Ambitionen und Ansichten, ohne dass man meinungslos sein darf. Die Amtsinhaberin verfügt zudem über die Fähigkeit, Standpunkte zu vertreten, die sie nur bedingt teilt. Organisieren sollte man auch können, schnell reagieren und integrativ wirken.

 

Im konkreten Fall der SP kommt aktuell eine weitere Eigenschaft dazu: Die Fähigkeit, den Dialog in Gang zu setzen, die Partei aus ihrer Harmoniebedürftigkeit zu holen, sie dazu zu bringen, dass sie mit Widersprüchen in der Sache leben kann und sich darüber auch streitet. Es geht dabei nicht um Gruppendynamik, bedingt um Richtungsfragen von etwas liberaler oder linker, wohl aber um die Lust an der Gestaltung der Politik, durchaus in Sinne der idealisierten alten Griechen. Die SP braucht ein Präsidium und eine Geschäftsleitung, die das fördert. Das wichtige Durchsetzen im Parlament kann die Fraktion übernehmen.

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