Ohrfeige

Ich habe eine Vergangenheit als Schlägerin. Mir rutschte des Öfteren die Hand aus. Ich war ein kleines, aber durchaus kräftiges Mädchen mit einem schlecht kontrollierbaren Agressionsimpuls. Man muss sich ja nicht alles gefallen lassen, fand ich jeweils und tätsch.

 

Einmal trug ein Junge meine Ohrfeige aus der Turnstunde für den Rest des Tages als rotes Mahnmal auf der Backe. Ich hatte dann eine Eingebung, die mir sagte, dass das wohl doch nicht in Ordnung ist. Ich war nicht besonders beliebt zu dieser Zeit und als ich mit dem Schlagen aufhörte, gewann ich Freunde, Freude und Frieden. Das hat mich irgendwie davon überzeugt, den gewaltlosen Weg zu gehen.

 

Aber eben, die Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Das heisst nicht, dass ich die Attacke von Christian Constantin auf Rolf Fringer gut finde, sie ist mir einfach nur nicht ganz fremd. Und auch wenn ich seit Jahrzehnten niemandem mehr die flache Hand an den Kopf geklatscht habe, kann ich nicht leugnen, dass ich den Impuls, diesen tief in der Bauchgegend empfundenen schnellen, heissen Groll, dass man sich doch nicht alles gefallen lassen muss, gelegentlich wieder verspüre. Seit letzten Sonntag mehr als auch schon.

 

Das fing an, noch bevor die Ergebnisse aus der Schweiz und Deutschland vorlagen, mit der ‹SonntagsZeitung› nämlich, in der Christoph Blocher die Kündigung der Personenfreizügigkeit fordert. Mit der sogenannten «Begrenzungsinitiative» will er eine «Scheinumsetzung wie bei der Masseneinwanderungsinitiative» verunmöglichen. Geht der Zeitplan auf, werden wir genau rund um die eidgenössischen Wahlen 2019 über nichts anderes als diesen Initiativmist aus der Feder eines alten, verletzten und verirrten Mannes und seiner Partei diskutieren.

 

Diese Dominanz eines Themas und einer Partei wird auch andere Auswirkungen haben, wie Katrin Göring-Eckardt von den Grünen in der Berliner Runde letzten Sonntagabend klar machte: Wenn die Medien während Monaten nur über die AfD berichten – egal ob wohlwollend oder kritisch – dann verhelfen sie genau dieser Partei zu Aufmerksamkeit und letztlich zu Wählerstimmen. Müssen wir das in der Schweiz jetzt umsverrecken wiederholen, dachte ich? Muss man sich das einfach gefallen lassen?

 

Das dachte sich vermutlich auch Martin Schulz, der an genau diesem Abend in derselben Runde den Wahlkampf doch noch eröffnete und dafür nichts als Häme erntete. Es ist verständlich, dass er sich, aus der Geiselhaft der grossen Koalition befreit, nun endlich auf Merkel stürzen wollte – aber es war zu spät, es war peinlich und auch unnötig. Aber auch er wollte sich das Ganze wohl nicht einfach gefallen lassen.

 

Ich auch nicht. Eine Mehrheit im Kanton Zürich hat sich dafür ausgesprochen, Kriegsflüchtlingen noch weniger Geld zu geben. Ihnen eine Integration in unsere Gesellschaft zu verunmöglichen – nur um sie dann später genau dafür zu verurteilen. Vielleicht sähe das Abstimmungsergebnis anders aus, hätte man ausgiebig darüber berichtet und informiert, was der Status ‹vorläufig aufgenommen› bedeutet und was eine Kürzung der Unterstützung für diese Menschen zur Folge hat. Was wir sicher wissen: Viele, zu viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind bereit, Verfolgte, Traumatisierte, Familien und Kinder anders, also schlechter zu behandeln. Aufgrund ihrer Herkunft.

 

Es ist unendlich traurig, das feststellen zu müssen. Und es ist unendlich wichtig, unsere ganzen Anstrengungen darauf auszurichten, dass das nicht wieder passiert. Weil: Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.

 

 

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