Liberal? Extrem!

 

Als ich am Montag im Zug westwärts fuhr, fiel mir eine regionale Ausgabe von ‹20 Minuten› in die Hände. Darin findet sich ein Interview mit der zukünftigen Baselbieter FDP-Erziehungsdirektorin Monica Gschwind. Quasi modellhaft lässt sich daran bürgerliches Denken analysieren.

Auf die (tendenziösen) Fragen betreffs Bildungsausgaben und Sparvorhaben antwortet Gschwind mit denkwürdigen O-Tönen aus dem Satzlexikon für neoliberale Sonntagspredigten: «Viele Jugendliche finden es gemütlicher in die Schule zu gehen, als sich mühselig für eine Lehrstelle zu bewerben (…) Die Ausbildungsdauer nimmt zu. Hier wollen wir Gegensteuer geben.» Auch müssten die Klassen vergrössert werden. Da immer mehr Heilpädagogen im Schulzimmer «herumschwirrten», obwohl die Kinder heute «nicht dümmer oder kränker als früher» seien, brauche es Kontingente für Therapeuten. Um die Qualität zu halten, müssten die Mittel «gezielt eingesetzt werden». Schüler hätten nicht nur an einer «Wohlfühlschule» Spass am Lernen, sondern schätzten Lehrpersonen, die ihnen «Leistung abverlangen»: «Erfolg und das Gefühl, etwas geleistet zu haben, machen die Schüler glücklicher, als vom Leistungsdruck verschont zu bleiben.»

 

Was sich aus bürgerlichem Mund gerne wie faktisch erhärtete Wahrheit anhört, ist in Wirklichkeit Ideologie pur. Sparen drängte sich etwa auf, wenn die Ausgaben ohne zwingenden Grund ständig gestiegen wären. Das Gegenteil trifft zu: Sozialkosten steigen ja einserseits schon deshalb stetig an, weil die personenbezogene Arbeit (mit SchülerInnen, Kranken usw.) im Gegensatz zur Warenproduktion nicht beliebig rationalisiert werden kann und darum, anders als warenartige Budgetposten, immer gleich teuer bleibt – und somit relativ immer teurer erscheint. Andererseits finanziert auf bürgerlichen Spar-Druck hin die IV keine Sonderschulen mehr, während die Integration dieser therapiebedürftigen SchülerInnen in die Regelklassen logischerweise nicht gratis und auch nicht ohne Therapieaufwand zu haben ist. Laut ‹Tageswoche› (3.5. 2015) will Gschwind (mit dem Geld aus eingesparten Therapien?) eine professionelle Medienstelle aufbauen – das ist tatsächlich ein gezielter Einsatz der Mittel: weniger ins Soziale, mehr in die Bürokratie. Das Vokabular zeugt zudem von grosser Verächtlichkeit gegenüber Schwächeren: Therapeuten arbeiten nicht, sie schwirren nur herum. Therapieberechtigte sind dumm oder krank, eine inklusive Schule wird als Wohlfühlschule verunglimpft, nur wer dem Erfolgs- und Leistungsdruck standhält, hat Glücklichsein verdient, und wer für die raue Wettbewerbswelt noch längere Reifung oder Schulung benötigt, ist bloss zu faul, eine Lehrstelle zu suchen.

 

Diese «gutbürgerliche», «liberale» Ideologie, die von erfolgreich geschürten Ressentiments gegen die Schwächeren der Gesellschaft lebt, ist brandgefährlich. Man sieht gemeinhin die SVP am extremen rechten Rand und die FDP als gemässigte Mitte-Partei. Das ist grundverkehrt. Das politische Koordinatennetz der Schweiz (und möglicherweise der ganzen EU) ist in der Mitte eigentlich leer, von ein paar Gemässigten aus linken und rechten Parteien abgesehen. Die neoliberale Sparideologie aber ist in der heutigen absoluten Setzung extremistisch. Sie kann sich an den sozialen Rändern einer Gesellschaft ebenso tödlich auswirken wie der Fremdenhass an den geografischen Rändern, und sie bewirkt eine stetig zunehmende Marginalisierung. Die beste Anschauung gibt uns dieser Tage die historische Situation um Griechenland: «Liberale» europäische PolitikerInnen nehmen es hin, ja verlangen geradezu, dass Menschen an mangelnder medizinischer Versorgung, an Kälte und Hunger sterben werden – um nur ja keine demokratisch gewählte linke Regierung zuzulassen. Willkommen in der schönen neuen Weltordnung der bedingungslosen Austerität!

 

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