Hingehn!

Wenn alles gut gegangen ist, haben Sie heute keine Zeit gehabt, diese Kolumne zu lesen. Dann wären Sie heute alle mit Streiken beschäftigt gewesen – die Frauen zu Tausenden auf den Strassen und die Männer als ihre Stellvertreter im Haus und am Herd, bei der familiären Kinderbetreuung oder im Beruf, der keine Abwesenheiten erlaubt.

 

Als Zürcherinnen hätten wir die Kinder im GZ Wipkingen oder auf dem Sekretariat der SP Zürich abgegeben, wären morgens um neune zum ersten Streik-Kaffee im frau*m an der Mattengasse eingetroffen, um noch ein Plakat zu malen, oder an der Uni, um uns laut bemerkbar zu machen. Dann hätten wir uns in der Bäckeranlage fotografieren lassen, um als einige von vielen Geschichte zu schreiben. Über Mittag hätten uns im Kanzlei solidarische Männer einen Streikzmittag serviert. Später wären wir mit dem Klitoris-Umzug mitgelaufen, wären an einer Strassenecke spontan auf ein feministisches Strassentheater gestossen, hätten am Theologinnen-Streik teilgenommen oder Verkäuferinnen Stühle und Pausenverpflegung vorbeigebracht. Um drei Uhr nachmittags hätten wir die fahrbaren Untersätze unserer Kleinen startklar gemacht, um sie an der Kinderwagen-Demo in Zürich spazieren zu fahren. In Uster hätten wir am Morgen den Rosengarten für die Schülerinnen der BZU eingeweiht, in Effretikon hätten wir um elf dem Glockengeläut als Zeichen gegen Gewalt an Frauen gelauscht, in Pfäffikon hätten wir mit TheologInnen über die Ungleichbehandlung der Frauen in der katholischen Kirche diskutiert, in Niederweningen an einer Vordemo am Nachmittag teilgenommen.

 

Einige – so auch ich – hätten neidisch auf jene Arbeitsstätten geblickt, wo etwas lief, wo es abging, wo eine kollektive Solidarität zum Tragen kam – während wir offenbar höchst unverzichtbare Rädlein im Weltenlauf und daher an unserer Arbeit unersetzlich waren. Es hätte uns gewurmt, dass unsere Chefs den Streik zur politischen Kundgebung abklassiert hatten, dass wir fürs Streiken Urlaub nehmen oder die Arbeit an einem anderen Tag kompensieren sollten; dass wir für den Fall des Ungehorsams mit Kündigung oder Sanktionen bedroht wurden; dass sich an unserem Arbeitsplatz keine Männer – ob Vorgesetzte oder Kollegen – fanden, die uns unterstützen mochten; dass unserem Traktandum Frauenstreik an keiner Teamsitzung Zeit einberaumt wurde und unser Berufsverband sich in Schweigen hüllte; dass unsere Streikplakate von der Pinnwand abgehängt wurden, dass wir unter unseren nächsten Kolleginnen kaum auf Resonanz stiessen.

 

Aber spätestens am Feierabend hätten wir darüber gelacht. Dann hätten auch wir auf dem Helvetiaplatz den Reden gelauscht, hätten uns gegen fünf Uhr zur Hauptdemo im Gebiet HB/Central besammelt; hätten unsere Freundinnen gesucht, das Handynetz wäre zusammengebrochen, und wir hätten uns halt spontan dem nächstbesten Grüppchen angeschlossen. Bei Einbruch der Dunkelheit hätten wir plötzlich auf den Hügeln rundum die Höhenfeuer der Landfrauen wahrgenommen. Und da hätten wir gemeinsam gelacht, zuletzt gelacht und am besten gelacht – denn es wären schlicht so viele Frauen auf die Strasse gegangen, dass es jedem, der es versäumt hatte, ein Teil dieser Bewegung zu sein, auf ewig peinlich sein würde, zu diesem historischen Moment rein gar nichts beigetragen zu haben.

 

Wenn es also noch der 14. Juni ist und Sie diese Zeilen lesen – Zeitung weglegen, hingehn!

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