Zynische Zwillinge

Ruth Humbel ist CVP-Nationalrätin aus dem Kanton Aargau, ausgebildete Primarlehrerin, Juristin, verheiratet, Mutter von zwei Kindern, ehemalige erfolgreiche Orientierungsläuferin, Verwaltungsrätin, 63 Jahre alt. Ruth Humbel ist wie ich. Auch wenn ich andere politische Einstellungen vertrete, andere sportliche Ambitionen verfolge (keine) und auch eine andere Ausbildung sowie einen anderen Beruf habe, im Grunde genommen sind wir Zwillinge. Zwillinge im Sinne der Privilegien, die wir haben. Unsere Existenz scheint nicht einmal durch eine Pandemie bedroht. Unsere Jobs sind ungefährdet. Ich weiss nicht, wie Ruth Humbel wohnt, aber mit Sicherheit ist es keine kleine Wohnung ohne Balkon, die sie sich mit Kindern und ihrem Mann teilen muss, der gerade auf Kurzarbeit oder bereits arbeitslos ist. Auch ich muss das nicht. Wir müssen nicht Angst haben vor unserer Zukunft, jedenfalls nicht mehr als vor der Coronakrise. Wir müssen auch nicht unter erschwerten Bedingungen arbeiten, ihr Homeoffice und meines sind vielleicht ungewohnt, mehr nicht. Unsere Jobs sind nicht gefährlich, physisch und psychisch nicht besonders belastend. Wir sind also Zwillinge, weil wir die exakt gleichen Privilegien haben, aber auch, und das ist wichtig, die exakt gleichen Pflichten.

 

Beispielsweise die, uns zu bemühen, so richtig fest und mit aller Kraft in die Situation all jener zu versetzen, denen es nicht so gut geht wie uns. Wir müssen uns dann fragen, was wir tun können. Macht man das mit Ernsthaftigkeit, kommt man vielleicht durchaus auf unterschiedliche Lösungen, jedoch niemals zur Aussage, PflegerInnen hätten immerhin sichere Jobs im Gegensatz zu Coiffeusen und Servicenangestellten, weshalb deren Demonstrationen und Forderungen zynisch seien. Genau das hat sie aber gesagt, sie, mein Zwilling, die Frau Humbel. 

 

Es ist ja auch eine Zumutung, nicht wahr, jetzt wollen die mehr als einfach nur Applaus. Jetzt halten die an ihren Forderungen fest, dabei geht es ihnen doch besser als allen anderen, denen es schlechter geht. Wo bleibt da die Dankbarkeit. Das ist wie diese Flüchtlinge, die sich auflehnen gegen die Unterbringung in einem Bunker oder mit zu vielen Menschen in einem zu kleinen Raum und mangelnde hygienische Schutzmassnahmen. Dabei hätten sie es bei sich daheim ja noch viel schlimmer. Jetzt sind sie in der Schweiz, müssen keine Angst mehr haben, ermordet, verfolgt oder vergewaltigt zu werden, und dann beklagen sie sich. Wo bleibt da die Dankbarkeit. Oder die Arbeitslosen, die Ausgesteuerten. Die besonders! Da zahlt der Staat und dann ist es ihnen zu wenig, wo doch ihr Überleben gesichert ist. Wo bleibt da die Dankbarkeit. 

 

Lasst uns etwas festhalten: Nicht die Forderungen des Gesundheitspersonals, nicht die Ansprüche von Geflüchteten, nicht die Bedürfnisse von Arbeitslosen sind zynisch, sondern Menschen wie Frau Humbel und ihresgleichen. Sie haben alle weit mehr, als nötig wäre, um nur das Überleben zu sichern. Ein würdevolles, anständiges Leben ist nicht nur die Abwesenheit von Mord und Totschlag, nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf, nicht einfach irgendeine Anstellung. Ein würdevolles Leben ist ungefähr das, was wir haben, die Frau Humbel und ich. Deshalb sollten wir die Forderungen nach mehr Personal, besseren Arbeitsbedingungen, mehr Lohn, menschenwürdige Unterbringung, Schutz für alle, würdige Sozialhilfe unterstützen. Wir alle. Es ist unsere Pflicht. Alles andere wäre zynisch. 

 

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