Zwischen Stuhl und Bank

Der flämische Zeichner und Maler James Ensor (1860 – 1949) ist über Kunstkreise hinaus kaum bekannt und auch sein eigenwilliges Werk bleibt weitestgehend nicht eindeutig fassbar, weil es vor Zwiespälten nur so strotzt. David Schmidhauser rückt ihn jetzt – in Kombination mit dem Zugpferd Picasso – im Kunstmuseum Winterthur/Reinhart am Stadtgarten anhand seines graphischen Werkes und einiger Gemälde ins örtliche Bewusstsein.

 

Fasnacht oder Karneval ist in Basel oder Köln eine todernste Angelegenheit, während andernorts das (Alkohol-)Gelage und die (sexuellen) Eskapaden als Motiv die sogenannt fünfte Jahreszeit dominieren. Ein Widerspruch, der nicht weggedeutelt werden kann. Ist einfach so. Vergleichbar spannungsgeladen bleibt jeglicher Versuch einer klaren Verortbarkeit alias Schubladisierung von James Ensor und dessen Werk. Er war kunstakademisch ausgebildet, brach aber das Studium aus Langeweile ab und wandte sich der boshaften Kritzelei alias Karikatur zu. Die Fratze, der Totenschädel, die Maskerade bis zur Travestie stehen Selbstbildnissen im Stile der Malergottheit Rembrandt und bravourös eingefangene Lichtstimmungen, für die ihn die Nachwelt verehrte, entgegen. Er nannte sich trotzig einen Atheisten und erwählte zeitgleich die Figur wie die Symbolik von Jesus Christus als eigenes Alter Ego. Mit den Anarchisten und der sich zu organisieren beginnenden Arbeiterschaft teilte er die Abscheu und Verachtung gegenüber der bourgeoisen Dekadenz, was ihn aber längst nicht zum politischen Klassenkämpfer machte, weil ihn das kleinbürgerlich Kleingeistige ebenso abstiess. Publikum wie Kritik verhöhnten ihn – wenn sie ihn denn überhaupt beachteten – bis ins hohe Alter, wo seine Rezeption ins krasse Gegenteil kippte und er mit Ehrungen überhäuft wurde. Am ehesten lässt sich sein Blick als originär auf das Menschsein per se gerichtetes Fallbeil lesen, das jeden darin unauflösbaren Zwiespalt wönniglich offenlegte und zuspitzte. Sein Verständnis für das Groteske fusste auf dessen ursprünglichem Sinn, den «unzulässigen Freiheiten der Maler und Dichter» (nach Horaz), die er für sich in Anspruch nahm, sich also um Ordnungen und Gestaltungsprinzipien foutierte.

 

Zeiten grosser Umbrüche

Rund um die vorletzte Jahrhundertwende war alles im Umbruch, also auch die Kunst. Also für den Fall, dass sich deren Schöpfer nicht primär um die Wünsche der Auftraggeber nach Schönheit und Erhabenheit unterordneten, sondern ihren eigenen Ausdruck finden wollten. Expressionismus avant la lett­re. Von namhaften Vertretern dieses Genres, als es sich dann breiter durchzusetzen begann, wurde er denn auch als Referenz genannt. Dass James Ensor heute einer breiten (Welt-)Öffentlichkeit nahezu unbekannt ist, führt die Autorin Ulrike Becks-Malorny im ungemein kostengünstigen Kunstbüchlein «Ensor. Der belgische Sonderling» da­raufhin zurück, dass die meisten seiner Werke in Belgien verblieben und dort häufig in Privatsammlungen jeder Öffentlichkeit entzogen sind. So, streng genommen, auch in Winterthur, wo die doch beachtlich umfangreichen graphischen Blätter und Plakatentwürfe aus den Beständen der Sammlung Oskar Reinhart das Fundament für diese Ausstellung legen. Die Ergänzung durch Picassos druckgraphische Werke, der in jungen Jahren Harlekine und Akrobaten und im Spätwerk Maskeraden in einem sehr weiten Sinn in einer konzentrierten Produktion (der sogenannten «347 Suite») schuf, ist gemäss David Schmidhauser auch der Versuch, James Ensor aus der bisher offenbar eher einsilbigen Betrachtungsweise herauszuholen. Und, eher salopp verkürzt, natürlich auch als Türöffner, damit sich ein Publikum überhaupt auf das Unbekannte, also James Ensor einlässt. 

 

Meist mehrdeutig

Was sich nicht auflösen lässt, ist die Zwiespältigkeit in seiner Arbeit. Wenn er einen Herrn in Frack und Zylinder an eine wie von Kinderhänden bekritzelte Wand urinieren lässt, über der auch noch der Slogan «Ensor est un fou» (Ensor ist ein Spinner) prangt («Le Pisseur», 1887), bleibt die mögliche Interpretation so vielfältig, dass sich die Mehrdeutigkeit nicht über einen Leisten schlagen lässt. Ensor also nicht eindeutig fassbar, sondern vielmehr mysteriös bleibt. Ist es der ihn verachtende Kunstkritiker, der sich in höchst ungebührlicher Weise derb verhält, also seine Notdurft an jeder Strassenecke verrichtet, oder ist es der Künstler, der seinem öffentlichen Verächter, der ihm vor seinem ihm gebührenden Ruhm steht, in gleichwohl unflätiger Manier seine Meinung kundtut? Oder ist es eine politisch motivierte, despektierliche Anprangerung des (Geld-)Adels, der die Welt als sein Eigentum begreift und sich darin ihr gegenüber voller Verachtung verhält, oder doch bloss eine Allegorie auf ‹Manneken Pis›, das Wahrzeichen der Hauptstadt? Sicherlich ist darin haufenweise Hohn und Spott, inwieweit dahinter Humor und Ironie oder aber blanke Wut stecken, lässt sich nicht ergründen. Die Neugier, die ist geweckt und zu entdecken gilt es eine «Ausnahmeerscheinung», als die sich James Ensor selber wahrnahm.

 

«Ensor – Picasso: Maskeraden», bis 20.6., Kunst­museum Winterthur/Reinhart am Stadtgarten.
Ulrike Becks-Malorny: Ensor. Der belgische Sonderling. Kleine Reihe 2.0, Taschen Verlag, 16 Franken.

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