- Im Gespräch
Zwischen internationaler Solidarität und Lokalpolitik
Sie haben im Rahmen Ihres Wahlerfolgs die Schlüssel zu einem Amtsraum bekommen, in dem zuvor die Zwangsverwalter walteten. Sie hätten opulentes Mobiliar, kristallne Kronleuchter und vergoldete Türen vorgefunden, heisst es im ‹Tagesspiegel›. Wie sieht der Amtsraum heute aus?
Serra Bucak: Weitgehend gleich. Eine komplette Umgestaltung würde in erster Linie Kosten bedeuten – und das wollen wir nicht. Aber wir haben bei den Kronleuchtern wenigstens Teile abmontiert, dass sie etwas schlichter aussehen, die Kettengardinen haben wir rausgemacht und normale Jalousien montiert. Alle alten Möbel wegzuwerfen und neue zu kaufen, wäre unverantwortlich – die Zwangsverwaltung hat uns ohnehin einen Schuldenberg hinterlassen.
Hintergrund
Serra Bucak ist Co-Oberbürgermeisterin der Stadt Diyarbakır. Die Metropole, die auf kurdisch Amed heisst, liegt im Südosten des türkischen Staatsgebiets. In Zürich bemüht sich die Gruppe «Brückenschlag Zürich ←→ Amed/Diyarbakır» um gute lokaldiplomatische Beziehungen und koordinierte in der Vergangenheit auch Wahlbeobachtungen vor Ort (siehe P.S. vom 12.04.24 und 26.05.23). Die Bevölkerung von Diyarbakır hat letztes Jahr die linksprogressive DEM-Partei – die Nachfolgepartei der prokurdischen HDP – in die lokale Regierung gewählt. In der Vergangenheit wurden gewählte HDP- und DEM-Vertreter in der Region immer wieder abgesetzt, ins Gefängnis gesteckt und durch Zwangsverwalter der regierenden AKP ersetzt. Nach der letzten Wahl ist das zumindest in Diyarbakır ausgeblieben.
Was ist Ihr politisches Ziel bis zur nächsten Wahl?
Es gibt etliche Probleme, die leider während acht Jahren Zwangsverwaltung ungelöst geblieben sind – ob sozialer oder wirtschaftlicher Natur, ob beim Drogenkonsum oder bei der Arbeitslosigkeit. Diese anzugehen, ist oft nicht einfach für uns: Kommunale Stadtverwaltungen in einem zentralisierten Staat wie der Türkei können alleine, ohne Unterstützung nur bedingt handeln. Wir können zwar als Kommune einige Infrastrukturprojekte einleiten, technische oder bürokratische Prozesse vereinfachen, aber jedes infrastrukturelle Problem zu lösen, ist schwierig. Diyarbakır hat etwa keine U-Bahn oder Strassenbahn – das wollen wir unbedingt angehen, es bedingt aber grosse Investitionen und wir sind somit auf Kredite angewiesen. Zudem wollen wir Diyarbakır als Kulturstandort stärken, weshalb wir ein internationales Filmfestival planen. Und natürlich ist uns auch die kurdische Sprache wichtig – wir wissen, dass sie keine offizielle Sprache in der Türkei ist, möchten aber, dass diese alte Sprache nicht verloren geht. Deshalb versuchen wir auch, ihren Erhalt zu unterstützen – indem wir etwa kulturelle Events entwickeln.
Sie haben als Oberbürgermeisterin ein Amt angetreten, in dem Sie sich mit Versäumnissen der Zwangsverwaltung und politischen Altlasten auseinandersetzen müssen…
Allerdings. Vieles wurde versäumt, das muss man so sagen. In acht Jahren Zwangsverwaltung hätte man vieles machen können – nicht nur für Diyarbakır, sondern für viele Städte in der Region. 2014 gab es über hundert Gemeinden, in denen die HDP die Wahl gewonnen hatte, jedoch Zwangsverwalter eingesetzt wurden, die keine Investitionen in die Infrastruktur der jeweiligen Stadt getätigt haben, keine sozialen Projekte gefördert haben, die zum Beispiel neue Arbeitsplätze schaffen würden. Stattdessen haben sie problematische Denkweisen und gefährliche ideologische Positionen vertreten, die ein Bild einer rein türkischen, türkisierten Gesellschaft zeichnen. Dem widersprechen wir vehement. Es ist keine Gesellschaft, wenn nur eine Kultur, nur eine Sprache, nur eine Perspektive existiert. Deshalb haben wir auch ohne Einsitz in der Stadtverwaltung versucht, eine soziale, progressive Gesellschaft zu fördern. Wir haben Frauenvereine geöffnet, Gleichberechtigung oder Genderpolitik gefördert, Aufklärungsarbeit gegen häusliche Gewalt oder Femizide gemacht, aber natürlich hat man andere Hebel, wenn man in der Verwaltung sitzt. Wäre das Budget in den richtigen Händen gewesen, hätten Investitionen in soziale oder infrastrukturelle Projekte getätigt werden können. In acht Jahren hätten wir zum Beispiel unser Strassenbahnprojekt auf jeden Fall realisiert.
Die Oppositionsparteien konnten jüngst in verschiedenen Wahlen einige Prozentpunkte zulegen. Die Kurd:innen leiden historisch oft aber unabhängig davon, wer regiert, unter Repressionen. Haben Sie heute mehr Hoffnung für die Zukunft in Bezug auf politischen Wandel in der Türkei?
Diese Hoffnung ist da, aber man muss betonen, was Sie gerade gesagt haben. Die türkische Republik existiert seit 100 Jahren und seit 100 Jahren gibt es auch die kurdische Bewegung. Alle Gruppierungen, die sich für die kurdische Identität engagiert haben, hatten immer das gleiche Problem. Wer auch immer an der Macht ist, hört die Bedürfnisse der kurdischen Bevölkerung nicht. Weder die Anerkennung der eigenen Identität, noch jene der Sprache, noch jene als ethnische Gruppe, als Volk, noch jene nach einem demokratischen und gerechten System. Die Repressalien durch die Justiz, die Inhaftierungen, politische Gefangene – das ist alles immer ein Thema in den türkischen Gefängnissen. Es ist ein grundsätzliches Demokratieproblem der Türkei.
Dennoch: Sie amten nun seit fast einem Jahr als Co-Bürgermeisterin und wurden nicht durch Zwangsverwalter abgesetzt. Hat sich etwas verändert? Oder sitzen Sie eigentlich unter dem Damoklesschwert und erledigen so viel wie möglich, solange Sie im Amt sind?
Letzteres. Wir versuchen alle einfach, unsere Arbeit zu machen. Und unsere Arbeit ist in erster Linie eine Dienstleistung: Wir müssen der Bevölkerung das Stadtleben in dieser Metropole erleichtern. Es gibt Projekte zu realisieren, deshalb gilt unser Fokus zunächst diesen. Letztendlich hat man in einem zentralistischen Staat auch gar keine so grossen Handlungsmöglichkeiten. Und gleichzeitig ist das Kommunale auch nicht losgelöst vom Politischen. Für uns heisst das: Wir können lokal auf kommunalpolitischer Ebene Dinge bewirken, die gleichzeitig aktivistische Wirkung haben.
Wie?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn wir über Femizide sprechen, ist das aktivistisch, weil wir uns damit gegen die etablierte Politik und gegen eine Justiz stellen, die Täter nicht genug bestraft und Männer somit weniger davon abhält, Gewalt gegenüber Frauen auszuüben oder sie zu ermorden. Wenn wir nun in der Verwaltung sitzen und Frauenhäuser oder Frauenberatungszentren öffnen, ist das natürlich auch politische Arbeit, die unsere Position verteidigt. Es ist schwierig, das voneinander abzugrenzen. Natürlich liegt auch ein grosser Druck auf uns, wenn Zwangsverwaltungen weiter existieren, wenn wir jede Woche unsere Augen zu einer Nachricht über eine neue Zwangsverwaltung öffnen, wenn wir zu Bett gehen und wissen, wir könnten morgen abgesetzt oder verhaftet werden. Aber letztendlich sind wir gewählte Vertreter:innen unserer Bevölkerung und das heisst, dass wir eine Verantwortung gegenüber dieser Bevölkerung haben.
Ich bin heute Morgen im Recycling-Center Hagenholz zu Ihrer Gruppe gestossen – wo Sie sich das Zürcher Recyclingkonzept genauer angeschaut haben. Ist die lokalpolitische Vernetzung also auch wichtig, um sich auszutauschen und um Inspiration, beispielsweise für Infrastrukturprojekte, zu sammeln?
Ja, sicherlich. Wir sind auch in Diyarbakır dabei, ein nachhaltiges Entsorgungssystem aufzubauen. Der Weg ist lang, das wissen wir, aber die Möglichkeiten sind da, die Ideen sind da. Wir haben uns beispielsweise auch das Kölner System im Rahmen eines Rundgangs angeschaut. Solche Einblicke sind wichtig für uns, weil wir den kommenden Generationen ökologisch sinnvolle Systeme mit Kontinuität hinterlassen wollen. Dafür braucht es den Austausch.
Sie haben im Oktober zu einem Treffen in Diyarbakır zwischen Kommunalvertreter:innen aus dem Nahen Osten und Westasien geladen. Dabei haben Sie den Fokus auf die lokale Diplomatie und Zusammenarbeit zur Förderung eines würdevollen und dauerhaften Friedens gelegt. Reisen Sie aus demselben Grund nach Köln oder Zürich?
Letzten Endes schon, ja. Denn in den Regierungsgebäuden, egal ob in der Türkei, im Nahen Osten oder in Europa, spielen die jeweiligen lokalen Vertreter:innen oft nur die zweite oder dritte Geige. Für die Politik auf Staatenebene spielt es keine Rolle, ob die Zivilbevölkerung in Palästina ihre Infrastruktur verliert, weil Israel eine Invasion in Gaza durchführt und die eingeladenen palästinensischen Bürgermeister:innen deswegen nicht aus ihren Städten ausreisen können. Als lokale Autoritäten müssen wir auf solche grundlegenden Dinge in der Kommunalpolitik immer wieder und so laut wie möglich hinweisen. Es ist wichtig, sich lokaldiplomatisch zu vernetzen. Schliesslich lässt sich aus lokalem Austausch auch sehr viel lernen, nicht nur in Bezug auf Zusammenarbeit, sondern auch in Bezug auf die jeweilige Gesellschaft, ihre Geschichte und ihre Wünsche für die Gegenwart und Zukunft. Für mich war diese Konferenz besonders lehrreich, weil ich als gewählte Oberbürgermeisterin aufgrund einer Ausreisebeschränkung ebenfalls nicht ausreisen konnte – wie die palästinensischen Bürgermeister:innen, wenn auch aus anderen Gründen. Das wollten mir die anwesenden AKP-Bürgermeister:innen fast nicht glauben. Obwohl wir in demselben Land leben, war meine Lebensrealität für sie unvorstellbar.
Solidarität über Vernetzung bedingt aber auch, sich diesen verschiedenen Lebensrealitäten zu stellen. Sie haben 11 Jahre in Deutschland gelebt. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass die westeuropäische Solidarität etwas selektiv sein kann?
Ja und ich würde auch sagen, dass ich manchmal grosse Enttäuschung darüber verspüre. Auf jeder Konferenz, auf jedem Treffen in Europa wird wieder und wieder betont, wie wichtig lokale Demokratie ist, wie wichtig lokale Kommunalpolitik ist, wie wichtig die Integration von Minderheitengruppen in einem Land ist. Gleichzeitig gibt es auf staatlicher Ebene keinerlei Sanktionen gegen jene, die das mit Füssen treten. Die Türkei hat acht Jahre lang eine Zwangsverwaltungspolitik durchgesetzt und sie macht es weiterhin – und es gibt keine Sanktionen, keine ernsthafte Anstrengung, die türkische Regierung davon abzuhalten. Das enttäuscht mich sehr. Und es beschränkt sich auch nicht nur auf die Schweiz. Man verschliesst die Augen wegen Interessenskonflikten. Ich weiss, wenn ich die Bürgermeisterin in Köln besuche oder Stadtpräsidentin Corine Mauch in Zürich, werden mir Empathie und solidarische Worte, im Zeichen der Demokratie, des Zusammenlebens, der Zukunft entgegengebracht. Aber realpolitische Einflüsse oder Folgen haben diese Worte nicht. Die internationale Solidarität ist in dieser Form somit zwar wichtig und wertvoll, aber nicht wirklich effektiv, um politische Veränderung herbeizuführen.
Der Solidarität über parlamentarische Politik gegenübergestellt haben Sie letzten November Greta Thunberg zu einem Gespräch getroffen. Welche Rolle spielt eine unbequeme, kritische, international vernetzte Jugend für Sie im Hinblick auf politische Veränderung?
Greta Thunberg hat Diyarbakır besucht, um sich mit den Klimaaktivist:innen vor Ort auszutauschen, sie hat sich für unsere Umwelt, für unsere Landschaft und auch für die Geschichte der kurdischen Bevölkerung interessiert. Wir schätzen sie als kritische Person, die gegen das globale, kapitalistische System protestiert. Auch hier geht es aber um Vernetzung. Und darum, dass die Vernetzung gefährdet ist. Die unbequeme Jugend ist leider in erster Linie eine in Bezug auf Partizipation benachteiligte Jugend. Ich hoffe darauf, dass sie sich mehr politisiert, engagiert und für die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen interessiert. Wenn die Jugend ihre Interessen und ihre Beteiligung verliert, ist das nicht nur bequem für am Erhalt des Status quo interessierte Machtzentren – sondern es ist auch ein grundlegendes demokratiepolitisches Problem. Die Gesellschaft muss sich beteiligen und sich verantwortlich für ihre Gemeinden, ihre Quartiere, Regionen, Länder, Kontinente fühlen.