Zwei Preise

Diese Nähe zur Grenze. Sie ist so neu für mich. Aufregend. Wenn ich dem See-rhein entlanglaufe oder mit dem Velo durchs Tägermoos fahre, dann kann es passieren, dass ich plötzlich in Kon-stanz bin. In Deutschland. Es gibt nichts Willkürlicheres als Landesgrenzen. 

Gerade jetzt im Herbst ist es eine eigentümliche Stimmung da am Wasser. Nebelschwaden steigen auf, richtig dicht, wie ich das so gar nicht kenne, und man sieht das andere Ufer nicht mehr, obwohl der Fluss hier überhaupt nicht breit ist. Ich liebe dieses Mystische, das auch ein englisches Hochmoor sein könnte mit dem Sumpfgebiet links und rechts des Weges, wenn da nicht neben dem Nebel noch die Grenzmelancholie hinge, diese Schwermütigkeit von Landesübergängen, die immer auch einen gewissen Schmerz in sich trägt. 

In solchen Gefilden laufe ich jetzt also hier auf dem Land, die Luft frisch, die Haare schon nach wenigen Metern feucht vom feinen Nieselregen, die Spinnweben am Wegrand eingefärbt von den Tropfen. Es ist alles so neu für mich, dass ich oft stehenbleibe, genauer schaue, die Schönheit nicht fassen kann. Immer wieder begegnete ich auch einem Graureiher, der aufrecht und völlig bewegungslos in einem sickrigen Nebenwasserarm des Seerheins stand. In moosgrüner Schlacke. Immer am gleichen Ort. Ich hielt ihn irgendwann für eine Skulptur oder Kunst am Bau, aber das ist die Städterin in mir, auf mein lautes Zurufen und Fuchteln bewegte er sich dann doch. Die Frau mit dem Hund, die in Sichtweite stand und meinen Bemühungen zusah, grüsste dieses Mal nicht, als wir uns schliesslich kreuzten. Ansonsten sind die Menschen aussergewöhnlich freundlich hier. 

Seit einiger Zeit fallen mir auch andere Menschen auf. Sie winken mir manchmal zu, manchmal auch gar nicht. Manchmal kauern sie so tief auf der Erde, dass sie mich nicht einmal bemerken. Es sind die Erntehelfer:innen. Wenn ich sehr früh unterwegs bin, sehe ich, wie sie zusammengepfercht in kleinen Bussen oder auch einfach vorwärts und rückwärts auf einem Traktor von der Grenze her zu den Feldern auf Schweizer Boden gefahren werden. Dann steigen sie aus, die Frauen mit Kopftüchern, so umgebunden wie früher meine Grossmutter es trug, ein Tuch ins Dreieck gefaltet und hinten am Nacken oder unter dem Kinn zusammengeknotet. Dann verwandelt sich diese Landschaft augenblicklich und es fühlt sich an wie vor vielen Jahrzehnten und mir ist, als wäre ich in einem Kriegsfilm gelandet, der in schwarz-weiss von den Menschen berichtet, die nicht an der Front stehen, sondern daheim versuchen, Essbares aus den Äckern zu kratzen. Es ist dann ein wenig unheimlich, ich bin als Zuschauerin unterwegs, vor mir eine Art Kulisse, die sehr unwirklich scheint und mir ist, als würde ich Dinge sehen, die besser im Verborgenen geblieben wären. Es ist eine andere Welt, eine Gegenwelt. 

Auf europäischen Feldern besteht sie aus mehr als einer Million Erntehelfer:innen. Sie arbeiten zu tiefen Löhnen. In einem Dokumentarfilm über die Situation im Wallis reden Betroffene von 12, 13, manchmal 15 Franken pro Stunde. Sie leben gemeinsam in Zimmern, in denen sie ein paar hundert Franken für die Matratze zahlen müssen, auf der sie schlafen können. In einem anderen Bericht erzählt ein italienischer Orangenbauer, wie er gar nicht anders kann, als auszubeuten, weil die Grossverteiler wiederum ihn im Preis drücken. Ein fairer Lohn liege da nicht mehr drin. Man glaubt es ihm, er wirkt nicht wie ein grundböser Mensch, er kommt selber kaum über die Runden. Man müsste, sagt er, eigentlich zwei Preise auf seine Orangen schreiben. Einen für die Konsument:innen und dann den, den er für sein Produkt erhält. Die Differenz ist das, was jene einsacken, die sich auf Kosten anderer bereichern. 

Mir dämmert, dass der Salat, die Tomaten, die Rüben aus meinem regionalen Gemüsekörbli, das ich wöchentlich erhalte, vielleicht nicht nur von fröhlichen Bäuer:innen geerntet werden. Sondern von jenen, an denen mich mein Spaziergang früh morgens vorbeiführt. Die einen von ihnen winken, die anderen nicht, wieder andere bemerken mich gar nicht. 

Es hat alles einen Preis. Viel zu oft sind es zwei.