Zukunftsträchtige Vergangenheit und eine neue Klassenpolitik

Die Klimakrise stellt die Welt vor nie dagewesene Herausforderungen. Doch kann uns die Geschichte etwas über mögliche Lösungsansätze erzählen? Im Gespräch mit Simon Muster erklärt Milo Probst, warum wir nicht alle im selben Boot sitzen – und unterzieht die Linke einer Selbstkritik.

 

Milo Probst ist Historiker und Aktivist. Er arbeitet seit vier Jahren als Assistent für Neue Geschichte an der Universität Basel. Für seine Dissertation untersucht er, wie sich AnarchistInnen mit ökologischen Fragen auseinandergesetzt haben. 

Herr Probst, in Glasgow treffen sich gerade 120 RegierungschefInnen zur Klimakonferenz «COP26». Der neue «Emission Gap Report» der UNO zeigt, dass alle Staaten zusammengenommen bis 2030 mehr als doppelt so viele fossile Energieträger aus dem Boden holen wollen, als für das Klimaziel von 1,5 Grad Erwärmung erforderlich wäre. Ist die Klimakonferenz bereits obsolet?

Milo Probst: Für mich ist unbestritten, dass die Bekämpfung der Klimakrise internationale Koordination benötigt. In diesem Sinn braucht es Gefässe wie die Klimakonferenz in Glasgow. Die Frage ist, ob diejenigen, die aktuell in diesen Gremien etwas zu sagen haben, tatsächlich willig sind, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen. Wie der Emission Gap Report aber zeigt, schlagen die Regierungen absurderweise genau in die gegenteilige Richtung ein: Sie setzen weiter auf fossile Energien und versprechen hier und da kleine Änderungen. 

Bei Klimafragen geht es immer um Macht. Und es ist leider so, dass die, die an der Macht sind, am wenigsten Interesse daran haben, das sich etwas fundamental verändert.

 

Ist das nicht ein bisschen gar pessimistisch? Die RegierungschefInnen haben doch alle ein Interesse daran, dass die Welt weiterhin bewohnbar bleibt.

Das Narrativ, dass wir in der Klimakatastrophe alle im selben Boot sitzen, gibt es schon lange in der Umweltbewegung. Und intuitiv stimmt es ja auch: Wir leben alle auf diesem Planeten, der immer wärmer wird. Nur zeigt sich schon alleine am Machtgefälle, dass wir nicht alle im selben Boot sitzen: Die Lobbyverbände der Erdölfirmen sind am «COP26» stark vertreten, während indigene AktivistInnen, die bereits heute unter den Folgen leiden, kaum Zugang haben und schon gar ihre Anliegen durchbringen können. Eine ökologische Katastrophe ist nicht einfach eine Naturkatastrophe, sondern entwickelt sich immer auch entlang sozialer Faktoren. Die, die Ressourcen und Macht haben, können sich besser vor den Folgen der Klimakatastrophe schützen als alle anderen.

 

Wie meinen Sie das?

Wer reich ist, kann sein Haus vor Unwettern schützen oder in sicherere Regionen umziehen. Mit den Staaten verhält es sich ähnlich. Auf der einen Seite tun reiche Staaten wie die Schweiz zu wenig, um die Treibhausgasemissionen zu senken. Auf der anderen Seite ergreifen sie aktiv Massnahmen, um ihre Privilegien vor besonders betroffenen Menschengruppen zu schützen. Das, was gerade an der polnisch-belarussischen Grenze passiert, ist aus meiner Sicht ein Vorgeschmack dafür, was uns erwarten wird, wenn wir nicht eine Klimapolitik im Interesse aller Menschen verfolgen. Jetzt fordern nicht nur die extreme Rechte, sondern auch die politische Mitte und die selbsterklärten ‹Vernünftigen›, dass Europa seine Festung an der Aussengrenze gegen Flüchtende verteidigt. 

 

Die Klimakatastrophe wird oft als Wissenspro­blem dargestellt: Wir müssen die EntscheidungsträgerInnen nur mit genug soliden Fakten und Argumenten überzeugen, dann werden diese handeln. 

Genau. Und die Geschichte zeigt, dass das nicht stimmt. Es ist zum Beispiel gut dokumentiert, dass Erdölfirmen bereits in den 1970er-Jahren um die Gefahren des Klimawandels wussten. Deswegen stösst diese Form des Aktivismus, dieser Appell an die Vernunft von EntscheidungsträgerInnen durch die Klimabewegung, auch an seine Grenzen. Es geht längst nicht mehr da­rum, PolitikerInnen und Unternehmen von der Existenz des Klimawandels zu überzeugen, sondern darum, gegen handfeste wirtschaftliche und politische Interessen vorzugehen. Man müsste noch viel stärker das Klimaproblem als Herrschafts- und Machtproblem verstehen. Das würde auch zur Folge haben, dass neue Formen des Aktivismus gesucht werden und eine Gegenmacht von unten diesem System gegenübergestellt wird. 

 

Eine Gegenmacht von unten? 

Ich spreche hier eine längerfristige Organisation an, die über einmalige Aktionen hinausgehen. Die Gewerkschaften haben sich die ArbeiterInnenrechte und die Sozialwerke auch erkämpft, weil sie eine organisatorische Macht aufgebaut haben. Ähnlich sieht es bei der BürgerInnenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten aus: Dort wurden verschiedene Strategien angewendet, um gegen die rassistischen Gesetze vorzugehen. Aber zentral war die Vernetzung und die Organisation unter den AktivistInnen.  

 

Die Klimakonferenz «COP26» wird auch als letzte Hoffnung vor dem Kollaps hochstilisiert, etwa von den Grünen. Wie zielführend ist diese rhetorische Aufrüstung?

Ich glaube, dass wir diesen Diskurs über die letzte Chance grundsätzlich überdenken müssen. Solche Diskurse können aus meiner Sicht zur Ernüchterung und zur Demobilisierung beitragen, weil die Leute die Hoffnung verlieren, wenn es für gewisse Dinge tatsächlich irgendwann zu spät sein wird. Zudem ist die Klimakrise für viele Menschen, gerade für Armutsbetroffene im globalen Süden, bereits Realität. Von der letzten Hoffnung zu sprechen übergeht, dass gewisse Menschen längst mitten in der Kata­strophe leben – und trotzdem weiterkämpfen. Natürlich geht es weiterhin darum, schlimmere Konsequenzen in der Zukunft abzuwenden. Aber gleichzeitig müssen wir bereits heute an einer solidarischeren Welt mitten in der Klimakrise arbeiten. 

 

In Ihrem Buch skizzieren Sie einen «Umweltschutz der 99 %». Wer sind diese 99 %?

Das ergibt sich aus der Analyse der Ursache der Klimakatastrophe. Diese sehe ich in einem hetero-patriarchalen, kolonialen rassistischen Kapitalismus. 

 

Bitte was? Das müssen Sie erklären.

Die kapitalistische Produktionsweise hat bereits die Erde grundlegend verändert. GeologInnen sprechen dabei vom Anthropozän, also dem geologischen Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Umwelt geworden ist. Man kann die Ursache dieser Veränderung historisch unterschiedlich verorten. Fakt ist aber, dass wir in einem Gesellschaftsmodell leben, das auf Wachstum in einer endlichen Welt basiert. Dieses Wachstum wird durch die Ausbeutung der Natur und von ArbeiterInnen erzielt. 

Zu diesen gehören aber nicht nur die LohnarbeiterInnen, sondern auch jene, die unbezahlte oder schlecht bezahlte Arbeit leisten wie etwa Frauen oder von Rassismus betroffene Menschen. Wenn wir also die Klimakatastrophe überwinden wollen, müssen wir alle diese Unterdrückungsmechanismen beseitigen. Oder anders gesagt: Für die Lösung der Klimakrise braucht es ein Zusammenwirken von feministischen, antirassistischen und gewerkschaftlichen Kämpfen. 

 

Sind in diesen 99 % aber nicht sehr widersprüchliche Interessen vereint? Ein Bergarbeiter im Kohlekraftwerk verliert womöglich seinen Job, wenn ein peruanischer Bauer vor Gericht gegen einen Bergkonzern, der seinen Lebensraum zerstört, gewinnt. 

Natürlich ist diese Zusammenarbeit nicht konfliktfrei und widersprüchlich. Die dominanten Strömungen der klassischen ArbeiterInnenbewegung sind in ökologischen und zum Teil auch in feministischen und antirassistischen Fragen gescheitert, das muss man in dieser Deutlichkeit festhalten. Mein Anspruch ist es aber, Klassenpolitik, ausgehend von der Klimafrage, neu zu denken. Dafür braucht es neue Gesellschaftsutopien, die Menschen mobilisieren und überzeugen können. 

Im Zentrum solcher Utopien müsste die Überzeugung stehen, dass ein besseres Leben möglich ist, mit mehr Freizeit und Selbstbestimmung, weniger Lohnarbeit, besseren Arbeitsbedingungen und körperlicher sowie geistiger Gesundheit für alle. 

 

Um diese Gesellschaftsutopien zu entwerfen, bemühen Sie viele historische Beispiele, gerade auch aus der anarchistischen Bewegung. Wa­rum suchen Sie gerade dort?

Zum einen hat das einen sehr pragmatischen Grund: Weil ich zu anarchistischen Bewegungen forsche. Es hat aber auch einen politischen Grund: Ich möchte die klassische Linke einer Selbstkritik unterziehen und zur Neuerfindung anregen. Den dominanten Strömungen der Linken – Kommunismus, Sozialdemokratie, grossen Gewerkschaften – ist es nicht gelungen, ökologische und soziale Fragen zu verknüpfen. Dabei gab es Bewegungen in der Geschichte, denen das ansatzweise gelungen ist. Diese wurden aber oft nicht ernstgenommen oder einfach vergessen. Aus heutiger Sicht steckt in diesen Bewegungen aber viel Potenzial. Es gibt auch in der heutigen Klimabewegung anarchistische Ansätze und Strategien, die zur Anwendung kommen. Etwa bei der Besetzung des Hambacher-Forsts oder bei der ZAD in Lausanne. Wir müssen nicht alle AnarchistInnen werden, um von diesen Bewegungen zu lernen. 

 

Okay, aber ist es nicht so, dass wir realpolitisch meilenweit von dieser Utopie entfernt sind und uns lieber am Machbaren orientieren sollten? 

Natürlich sind wir, wenn wir auf die Klimakonferenz «COP26» schauen, weit von den Utopien entfernt, die ich in meinem Buch bespreche. Aber bereits wenn wir vor das Kongresszentrum in Glasgow schauen, sehen wir Demonstrationen von indigenen AktivistInnen, «Friday for Future» und vielen anderen sozialen Bewegungen. Tagtäglich finden ökologische Kämpfe statt. Von diesen sollten wir uns inspirieren und motivieren lassen. Die EntscheidungsträgerInnen im Kongresszentrum werden es nicht richten. 

 

Zum Schluss ein Blick in die Schweiz. Das CO2-Gesetz wurde dieses Jahr abgelehnt, auch von Teilen der Klimabewegung und der Linken. Hier stand der fehlende Pragmatismus der Linken einem kleinen, aber wichtigen Schritt im Weg. 

Ich kann gut verstehen, wenn Menschen aus pragmatischen Gründen für dieses Gesetz gestimmt haben. Man darf aber nicht vergessen, dass dieses Gesetz viele Schwächen hatte und uns nicht reibungslos in eine nachhaltige und soziale Gesellschaft versetzt hätte. Was mir aus linker Perspektive gefehlt hat, ist ein Plan, wie wir diese notwendigen Veränderungen erreichen können, selbst wenn das Gesetz angenommen worden wäre. Die Idee, dass wir jetzt ein Gesetz erlassen und dann zehn Jahre später wieder eines, das die Fehler ausbügelt, ist einfach ungenügend. Was mir fehlt bei der parlamentarischen Linken ist eine Strategie, wie ein tatsächlicher Wandel gelingen kann. Und das beinhaltet mehr, als einfach einen grünen Bundesrat zu wählen. 

Die Linke muss ehrlich sein und sagen, dass die He­rausforderungen immens sind und sich nicht allein über die institutionellen Wege lösen lassen. Zwar wird immer die Dringlichkeit und Einmaligkeit der Klimakrise hervorgehoben. Aber schlussendlich setzen trotzdem die meisten auf Initiativen und die nächsten Wahlen. Diese Instrumente haben zwar durchaus ihren Platz, aber nur, wenn sie in eine Strategie eingebettet sind, die Politik neu denken. Weil die Zeit drängt.

 

Milo Probst: Für einen Umweltschutz der 99%. Edition Nautilus 2021, 200 Seiten, 22.90 Franken.

 

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