Zugleich über- & unterkomplex

Den einen, springenden Punkt in der von Sandra Gianfreda angestrebten Auslegeordnung über das Verhältnis des Okzidents zu den diversen Künsten des einst Orient genannten Kulturraums seit 1851 finden zu wollen, ist nicht zielführend. In «Re-Orientations» stehen weniger die einzelnen Werke im Mittelpunkt als die akademisch-kunsthistorische Einordnung einer langjährigen europäischen Betrachtungsweise.

Die aktuelle Ausstellung und der Frageansatz weisen starke Parallelen zur ebenfalls von Sandra Gianfreda verantworteten Verortung einer Japonismus genannten Modeströmung alias Begeisterung in Europa zwischen 1860 und 1910 auf, die sie vor acht Jahren mit «Monet, Gauguin, Van Gogh… Inspiration Japan» an gleicher Stelle präsentierte. Nach der Weltausstellung in London 1851 entstand ein – für den Hausgebrauch – vergleichbarer Hype bezüglich des damals noch exotisch konnotierten Orients wie den späteren bezüglich Japans. Wissenschaftlich kann das natürlich nicht so genannt werden. Endgültig zum ernstlichen Interesse für die betreffenden Künste erhob sie die Aussstellung «Meisterwerke muhammedanischer Kunst» von 1910 in München. 

Gerade in der Vereinfachung …

Ausstellung wie Katalog untersuchen einen sehr breiten Strauss von Aspekten. Zuvorderst steht das Bestreben, den früheren Exotismusaspekt abzulegen, was zum aktuellen Wording der «islamischen Künste» (im Plural) führt. Gemeint ist alles von Glas, Keramik, Architektur, Ornamentik, Bildende Kunst, Kunsthandwerk, Schmucksachen, Bronzen, Manuskripte, Gewebe, Steine bis zu Stickereien vor allem aus Osteuropa, dem Balkan, Nordafrika, Vorder- und Zentralasien bis nach Indien. Und dies in einer Zeitspanne seit mehr oder weniger jeher. In der Ausstellung, aber auch nach der Lektüre des Katalogs ereilt einen mehrfach die Frage, ob die kunstgeschichtliche Warte nicht ein zu fokussierter Blickwinkel darauf darstellt und sich für diese Aufarbeitung ein transdisziplinärer Ansatz nicht regelrecht aufdrängen müsste. Die vielen verschiedenen Herrschaftseinflüsse über die Jahrhunderte sind für sich allein schon so komplex und die trotz den verschiedentlichen Eroberungen nicht weiter vereinheitlichten Sitten und Gebräuche zwischen beispielsweise Rabat und Hyderabad sowie die Spezialisierung auf spezifische Artefakte verkompliziert die Gemengelage nochmals zusätzlich.

… zu abstrakt

Die Ausstellung schlägt durchaus Pflöcke ihres Hauptinteresses ein. Einer betrifft die berühmten Sammler, darunter die Industriellen Albert Goupil und Henri Moser sowie der Erdölkaufmann Calouste S. Gulbenkian und natürlich deren Sammlungen. Ein weiterer Aspekt sind die reisenden europäischen Künstler (kaum :innen), produzierende Kunsthandwerksbetriebe, zu einem späteren Zeitpunkt die mehrheitlich auf Nordafrika beschränkte Erfahrung von noch heute bekannten Künstlern wie Kandinsky, Matisse und Klee und der Einfluss ihrer damit erreichten Erweiterung ihres (auch Formen-)Spektrums auf ihr künftiges Werk. Hinzu kommen zeitgenössische Positionen von heute mehrheitlich in Europa oder den USA lebenden Künstler:innen mit einem sehr ungefähr als islamisch verortbaren kulturellen Hintergrund. 

Die geöffnete Klammer ist so gross, dass schier alles darin Platz findet, was eine publikumsseitige Rezeption nicht eben vereinfacht. Zwischen einem Blatt aus dem «Buch der Könige» aus dem Iran des frühen 14. Jahrhunderts und einer zeitgenössischen Verquickung von Flucht- und Handelsrouten mit ehedem als Zeugnis von Wohlstand und Weltläufigkeit beliebten Perserteppich ein zwingend verbindendes Element finden zu wollen, grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit. Insofern wird der Anspruch, die rein auf den Reiz der Schönheit setzende Bewunderung von damals mit einer neuen Warte überschreiben zu wollen, zu einer zeitgleich einerseits sowohl unter- als andererseits auch überkomplex wahrgenommenen Vermengung. Ob sich dieses Dilemma (auch) der Vermittlung rein didaktisch überhaupt auflösen liesse, ist ungewiss. 

Auf die Sinne verlassen

Auf jeden Fall ist es irritierend, Exponaten gegenüberzustehen, die nicht für sich, sondern als Stellvertretung für eine kunsthistorische Untersuchung stehen. Also nicht deren Bedeutung verhandelt wird, sondern ihre zurückliegende europäische (quasi) Instrumentalisierung. Am Nutzbringendsten dürfte von daher ein Besuch sein, der die Theorie erstmal aussen vor und der Sinnlichkeit den Vortritt lässt, um nur im interessierenden Einzelfall eingehend zurate gezogen zu werden. Sonst droht die Verwirrung grösser zu werden als die zu gewinnende Erkenntnis, was in zunehmender Verweildauer auch zu einem regelrechten Ärgernis werden kann. 

«Re-Orientations. Europa und die islamischen Künste, 1851 bis heute», bis 16.7., Kunsthaus, Zürich. Katalog bei Hirmer, 59 Franken.

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