- Im Gespräch
«Zürich braucht auch den Mut, mal etwas weniger perfekt zu sein»
Bei den städtischen Wahlen 2022 brachten es die SP auf einen Wähler:innenanteil von 28,56 Prozent, die Grünen auf 14,32 Prozent und die AL auf 6,56 Prozent, ergibt total 49,44 Prozent. Rein rechnerisch hat das ganze rotgrüne Lager damit Anspruch auf maximal fünf der neun Sitze. Wie begründen Sie Ihren Anspruch auf einen dritten Grünen Sitz?
Balthasar Glättli: Ich mache den Wähler:innen ein Angebot. Ob sie es annehmen wollen entscheiden sie am 8. März 2026. Stadtratswahlen sind Persönlichkeitswahlen. Welche Kombination sie wünschen, haben die Wähler:innen in der Vergangenheit entschieden und werden das auch dieses Mal tun. Vielleicht melden sich auch noch weitere Anwärter:innen aus unseren Reihen: Wen die Grünen der Stadt Zürich nebst den beiden Bisherigen ins Rennen schicken, entscheiden die Mitglieder am 8. Juli.
Sie haben die letzten 14 Jahre in Bern politisiert. Wie gut vorbereitet treten Sie Ihr Amt an, falls Sie in den Stadtrat gewählt werden?
Es wird meine Sommerferien-Aufgabe sein, mich durch viele Dokumente durchzulesen und mich à jour zu bringen in Sachen Zürcher Lokalpolitik. Doch der Blick von aussen hilft mitunter auch beim Einordnen: Als Präsident der Grünen Schweiz habe ich mit Exekutivmitgliedern aus der ganzen Schweiz geredet und so mitbekommen, was in anderen Städten besser und schneller geht als bei uns.
Als prominenter Neuer bedrängen Sie die Bisherigen, sowohl rechts als auch links: Keine Hemmungen diesbezüglich?
Dass eine amtierende Stadträtin, ein amtierender Stadtrat bei den Gesamterneuerungswahlen nicht wiedergewählt wurde, ist im aktuellen Jahrtausend noch nie vorgekommen. Zuletzt ist das Hans Wehrli von der FDP 1998 passiert. 1994 schied Ruedi Aeschbacher (EVP) als Überzähliger aus. Dass jemand zittern muss, kommt hingegen vor. Bei den letzten Gesamterneuerungswahlen 2022 hat es Michael Baumer von der FDP nur knapp geschafft, seinen vier Jahre zuvor ebenfalls knapp geholten Sitz zu verteidigen.
Nächstes Jahr tritt bei den Freisinnigen Filippo Leutenegger nicht mehr an, Michael Baumer ist damit der einzige Bisherige der FDP, und der FDP wollen Sie den zweiten Sitz abjagen.
Die Zürcher FDP hat in der letzten Zeit eine Entwicklung durchgemacht, die ihr politisch nichts nützt: Unter ihrem neuen Präsidenten Filippo Leutenegger hat sie sich sehr stark nach rechts orientiert, gerade bei Themen wie Asyl und Migration. Doch auch das Bekenntnis zu den Bilateralen steht nicht mehr zuoberst im Parteiprogramm, wie man es von der FDP als Wirtschaftspartei erwarten würde. In Bundesbern ist es ähnlich. Da frage ich mich unterdessen bei Vorstössen der FDP regelmässig, ob ich vielleicht falsch geguckt habe und eigentlich die SVP die Absenderin ist. An der Wahlurne hat dies der FDP aber nichts genutzt, sondern bloss das Original, die SVP gestärkt. Nun ruft Përparim Avdili in Zürich die rechts-bürgerliche Wende aus. Ich sehe darin eher das verzweifelte letzte Aussprossen eines Baumes, der am austrocknen ist.
Soll heissen, Sie und die Grünen sind vergleichsweise voll im Saft?
Soll heissen, ich biete eine politische Alternative: Wollen wir «meh Grüen» in Zürich oder «meh Blau»? Zumal «meh Blau» nicht mehr dasselbe Blau zu meinen scheint: Früher war die FDP die Partei des Zürichbergs. Heute ist sie eher die von Herrliberg. Deshalb greifen wir den freiwerdenden Sitz der FDP an.
«Meh Grüen» also: Und was ist mit den Roten?
Wir machten in der Stadt Zürich nie einen Lagerwahlkampf. Auf der linken Seite unterstützen wir uns gegenseitig. Doch alle Köpfe von SP bis AL alle auf einem Plakat? Das gab es bisher nicht und wird es auch künftig kaum geben. Die Links-Grünen Persönlichkeiten stehen je für sich hin und werben für ihre Positionen, und gleichzeitig freuen sich alle schon auf einen gemeinsamen Wahlkampf. Ich weiss, mit wieviel Herzblut sich beispielsweise SP-Nationalrätin Céline Widmer auch für jene Menschen einsetzt, die keinen Schweizer Pass haben.
Ob Grün oder Rot spielt keine Rolle?
Ich war 14 Jahre im Zürcher Gemeinderat und bin nun seit 14 Jahren Nationalrat, und mir wird immer wieder vorgeworfen, ich sei eine Wassermelone: Aussen grün, innen rot. Wer mich damit zu beleidigen versuchte, dem:der entgegne ich, dass es mir eine Ehre ist, so gesehen zu werden. Ich stehe ein für Umweltgerechtigkeit und Klimagerechtigkeit, nicht nur rein technokratischen Umweltschutz.
Wie meinen Sie das?
Wir brauchen natürlich Innovation und Technik. Wir brauchen mehr Solarzellen auf den Zürcher Dächern und Fassaden und Speicherlösungen obendrein. Und wir müssen gleichzeitig alle Menschen fair mitnehmen. Wir dürfen keine ökologische Politik auf Kosten der sozial Schwächsten machen.
Sie blicken auf 28 Jahre in der parlamentarischen Politik zurück, aber auch auf das Präsidium der Grünen Schweiz, das Sie nach der Wahlniederlage 2023 abgegeben haben: Sind Sie sicher, dass Sie sich auch noch den Job als Stadtrat antun wollen?
Antun wollen? Wenn mir das so schlimm vorkäme, dann würde ich gar nicht erst kandidieren wollen! Zudem habe ich nicht nur 2023 verloren, sondern war auch 2019 Wahlkampfleiter, als die Grünen den grössten Erfolg ihrer Geschichte erreichten. Wichtig bei einer Stadtratskandidatur ist vor allem, mit viel Mumm und Kraft daran zu gehen und inhaltlich etwas zu wollen. Es ist ja nicht vergleichbar damit, dass jemand schon lange gut am selben Ort arbeitet, und irgendwann wird er oder sie halt befördert, und logisch sagt er oder sie dann nicht Nein. Mir geht es erst einmal darum, am 8. Juli von der Mitgliederversammlung nominiert zu werden. Dann folgt der Wahlkampf, und dieser wird zeigen, wer den langen Schnauf hat und auch die guten Ideen. Diese Wahlen bieten zudem eine spezielle Chance.
Inwiefern?
Die vielen neuen Gesichter werden auch zu einer neuen Dynamik im Stadtrat führen. Umso mehr haben wir es mit einer Richtungswahl zu tun: Kommt die rechts-bürgerliche Wende? Oder kommt mehr Elan für links-grün? Ich habe nach je gut drei Legislaturen in Gemeinde- und Nationalrat grosse Lust darauf, mir, bildlich gesprochen, die Hände schmutzig zu machen. Zürich braucht auch den Mut, mal etwas weniger perfekt zu sein. Wenn man im Parlament Gesetze macht, müssen die wirklich stimmen. Aber natürlich kann man auch in Bundesbern konkrete Änderungen bewirken.
Legen Sie los.
Ein konkretes Beispiel ist mein allererster Vorstoss: Ich habe erfolgreich erreicht, dass es möglich wurde, Velostreifen an besonders gefährlichen Orten rot zu markieren. Früher war das nur als Ausnahmeversuch möglich, und jede dieser Ausnahmen musste speziell begründet und begleitet werden. Ich fand, weniger Bürokratie und gleichzeitig mehr Schutz für die Velofahrer:innen wären gut, und so kam es dann auch. Das macht mir Freude, und es ist etwas konkret Positives, gerade verglichen mit dem Schneckengang bei der Klimawende.
Das sagen Sie als Grüner?
Wir wissen ja alle, dass wir zu wenig machen. Doch konkrete Ideen wie nur schon die, die Verschwendung zu stoppen, haben trotzdem einen schweren Stand. In Genf unterstützt das Programm Eco21 Haushalte und KMU beim massiven Energiesparen. Warum machen wir das nicht auch in Zürich? Zumal es keineswegs einen riesigen Verzicht bedingt: Wenn wir den Verbrauch ohne Nutzen eliminieren und auf die aktuell effizientesten Technologien umsteigen, reduzieren wir den Endstromverbrauch um bis zu einem Drittel und sparen erst noch Geld damit.
Das tönt alles sinnvoll, reicht aber noch nicht aus, um die Klimaziele zu erreichen.
Ja, das Klima schützt man nur, wenn man die Treibhausgase reduziert. Das braucht aber Grüne Energie. In Zürich schöpfen wir das Solarenergiepotenzial bei Weitem nicht aus, und wenn die jungen Grünen im Gemeinderat da mehr Tempo fordern, beissen sie beim Stadtrat auf Granit. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass Michael Baumer in Solarparks im Ausland investiert, aber es ändert nichts daran, dass es auch hier bei uns endlich vorwärts gehen muss.
Zum Beispiel?
Es gibt unterdessen viele neue Lösungen, gerade auch für Mieter:innenhaushalte, oder ab 2026 die Zusammenschlüsse im Quartier, die lokalen Elektrizitätsgemeinschaften. Die haben grosses Potenzial, leiden jedoch an der Bürokratie, die übrigens aus Bundesrat Röstis Departement kommt.
Was die Departemente betrifft, sagen jeweils alle Stadtratskandidat:innen, sie würden selbstverständlich jedes gern haben, sofern sie gewählt würden. Sie scheinen sich aber schon für die Industriellen Betriebe entschieden zu haben.
Nein, mich würde zum Beispiel auch das Sozialdepartement reizen. Aber für diese Diskussion ist es tatsächlich viel zu früh. Eins nach dem andern. Klar ist aber heute schon: Mit dem Ausbau der Erneuerbaren, mit mehr Energieeffizienz und mit der Klimawende müssen wir massiv schneller vorwärts machen als bisher. Strom lokal zu produzieren und zu vertreiben macht Sinn, gerade auch, weil so die Netze weniger belastet werden. Problematisch wird es, wenn die Hauseigentümer:innen keine Solarpaneele wollen, weil für sie die Rechnung nicht stimmt und den Strom ja sowieso die Mieter:innen zahlen. Hier sind neue, bessere Lösungen gefragt: Ein Rundum-sorglos-Paket vom EWZ gibt es zwar fürs Contracting, also wenn die Eigentümerin gleich alles vom EWZ machen lässt. Wir müssen aber auch attraktive Modelle haben zum Beispiel für die neuen lokalen Elektrizitätsgemeinschaften und überhaupt für Besitzer:innen, die selber investieren und sich in der Nachbarschaft organisieren möchten.
Damit zum Schlusswort: Was macht es für Sie erstrebenswert, wieder auf der städtischen Ebene zu politisieren?
Auch in der Schweiz ist eine gewisse Trumpisierung im Gang. So etwas brauchen wir in Zürich aber nicht. Die Städte sind Hoffnungsträger, Orte, in denen das Miteinander im Fokus steht, nicht die Abgrenzung. Dafür möchte ich mich in der Exekutive einsetzen.