«Zerstörerisches Wachstum, immer mehr, immer höher!»

Zurzeit ist die Stadt Zürich daran, ihre Hochhausrichtlinien zu aktualisieren. In diesem Zusammenhang hat die «Arbeitsgruppe Städtebau + Architektur Zürich» Ende Januar eine Broschüre mit dem Titel «Hochhäuser – Kritische Betrachtungen. Plädoyer für urbanen Flachbau» herausgegeben. Horst Eisterer, Architekt und Mitglied der Arbeitsgruppe, erklärt im Gespräch mit Nicole Soland, weshalb sich die Gruppe für Verdichtung ohne Hochhausbau engagiert.

 

Wer ist die «Arbeitsgruppe Städtebau + Architektur Zürich»?

Horst Eisterer: Wir sind kein Verein, sondern eine lose Gruppe von etwa zehn Berufskollegen, die sich vor einem Jahr nach einer Mitgliederversammlung des Werkbunds zusammengetan hat. Ich bin 81 und der Älteste, einer ist um die 65, die anderen sind zirka 30 bis 50 Jahre alt. Wir treffen uns einmal pro Monat zu einem Stammtisch und tauschen uns zum Thema Städtebau und Architektur aus.

 

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Broschüre über Hochhäuser zu verfassen?

Die Broschüre «Hochhäuser – Kritische Betrachtungen» ist aus Anlass einer Ausschreibung entstanden, die das Hochbaudepartement der Stadt Zürich im Frühjahr 2019 zur Aktualisierung der Hochhausrichtlinien gestartet hat. Unsere Gruppe distanziert sich von dieser Ausschreibung.

 

Was haben Sie denn gegen Hochhäuser?

Weder bin ich persönlich noch ist unsere Arbeitsgruppe prinzipiell gegen Hochhäuser: Wir begrüssen sie sogar, aber nur als städtebaulich begründete Ausnahme. Der Professor emeritus für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, Vittorio Magnago Lampugnani, hat es so ausgedrückt: «Das Hochhaus hat immer fasziniert. Es war stets irrational, mit ganz wenigen Ausnahmen. Die meisten Hochhäuser sind nicht gebaut worden, weil man sie brauchte, sondern weil man sie wollte.»

 

Das spricht doch nicht dagegen, bei der Aktualisierung der Richtlinien mitzumachen?

Aus meiner Sicht sind die bestehenden Richtlinien, die Hochhäuser nur an bestimmten Orten vorsehen, nicht überarbeitungsbedürftig, sondern vielmehr vernünftig, ja vorbildlich. Das Problem liegt anderswo: Bei der Stadt hält man sich nicht an die eigenen Richtlinien – sie sind ja leider auch nicht rechtsverbindlich. Es werden seit einigen Jahren – besonders im Limmattal – wahllos Hochhäuser gebaut, vorausgesetzt, es findet sich ein Grundstück und ein Investor. Ich finde es falsch, die Richtlinien anzupassen, nur damit es künftig regelkonform ist, überall Hochhäuser hinzustellen, wo jemand eins bauen will.

 

Wo wären denn Hochhäuser in Zürich am richtigen Ort?

Dazu gibt es bereits viel Literatur, beispielsweise von Kevin Lynch, Saverio Muratori oder Aldo Rossi. Sie alle haben sich mit Stadtmorphologie befasst und verlässliche Kriterien dafür aufgestellt, wo Hochhäuser als Merkpunkte sinnvoll sind. Ein gelungenes Beispiel in der Stadt Zürich ist jenes gegenüber der ehemaligen EPA an der Sihlporte; es markiert das Tor zu Aussersihl. Ebenfalls am richtigen Ort ist das Hochhaus bei der Schmiede Wiedikon, das an diesem Verkehrsknoten für bessere Orientierung sorgt.

 

Sie machen bei der Ausschreibung nicht mit – die Richtlinien scheinen Sie aber trotzdem stark zu beschäftigen: Weshalb?

Die neuen Richtlinien kommen einerseits zu spät, denn irreparabler Schaden ist bereits angerichtet. Andererseits kommen sie aber auch zu früh: Zuerst hätte eine grundlegende und objektive Debatte über Hochhäuser geführt werden müssen – und zwar nicht nur aus Sicht der ArchitektInnen, sondern auch aus einer ökologischen, ökonomischen, soziologischen und psychologischen Betrachtungsweise mit dem Beizug von Experten der betreffenden Fachgebiete. Wir wollen in unserer Broschüre zeigen, was Hochhäuser in diesem Sinne leisten können und was eben nicht. Die Broschüre ist zudem ein Plädoyer für den urbanen Flachbau, für städtische Mehrfamilienhäuser mit vier bis fünf Stockwerken.

 

Die Stadt wächst und soll laut Vorgaben des Kantons in den nächsten Jahren Zehntausende zusätzliche EinwohnerInnen aufnehmen. Mehr Verdichtung auf begrenztem Raum – das schreit doch geradezu nach mehr Hochhäusern?

Hochhäuser sind tatsächlich ein, allerdings tückisches, Mittel zur Verdichtung. Wenn man sich an jenen Dichten orientiert, die hierzulande als menschen- und umweltverträglich gelten, sind Hochhäuser wegen ihrer Merkmale und Auswirkungen nicht empfehlenswert. Ich sehe sie als «ultima ratio», wenn man unbedingt höhere Ausnützungsziffern* als zirka 200 Prozent erreichen will. Unsere Schweizer Altstädte mit fünf- bis sechsgeschossiger Bauweise haben sogar Ausnützungsziffern bis 350 Prozent. Sie sind trotz gewisser Einschränkungen wegen ihrer zentralen Lage, wirtlicher Aussenräume, der guten Versorgung und oft günstiger Kostenmiete sehr begehrt.

 

«Dichte» hat demnach nur bedingt etwas mit «Höhe» zu tun?

So ist es. Wenn wir in unserer schönen Stadt Zürich kein Hochhausdickicht wollen wie in chinesischen Städten, müssen wir deshalb am richtigen Ort ansetzen: Derzeit beträgt der Nutzflächenanteil der Hochhäuser etwa fünf Prozent. Ein paar Hochhäuser mehr oder weniger haben kaum Einfluss auf die Verdichtung, zumal bereits mit dem Flachbau eine hohe Dichte erreicht wird. Die Stadt will bekanntlich weitere 100 000 Menschen in der Stadt Zürich unterbringen. Ob wir StadtzürcherInnen das eine gute Idee finden, hat uns bis jetzt zwar noch niemand gefragt. Aber nehmen wir an, Kanton und Stadt ziehen das durch: Es wird nur dann funktionieren, wenn diese Menschen im übrigen Baubestand, also auf den restlichen 95 Prozent Fläche, eine Bleibe finden.

 

Aber es heisst doch immer, wenn man in die Höhe baue, hätten die BewohnerInnen mehr Freiraum rund ums Haus herum zur Verfügung, als wenn man «in die Breite» baut.

Heinrich Serini hat bereits 1913 festgestellt, dass die überbaute Bodenfläche, die auf einen Quadratmeter rohe Wohnfläche trifft, bei zwei Geschossen einen halben Quadratmeter beträgt, bei drei Geschossen einen Drittel und so weiter. Die Zunahme der Freiflächen von zwei auf drei Geschosse beträgt somit 16,6 Prozent, der Sprung auf vier Geschosse bringt acht Prozent, auf fünf Geschosse fünf Prozent, auf sechs Geschosse drei Prozent. Oder anders formuliert: Die Freiflächengewinne nehmen exponentiell ab, und von einer Höhe von vier bis fünf Geschossen an tendieren sie gegen Null. Leider wissen das auch viele ArchitektInnen nicht… Im urbanen Flachbau sind Freiflächen zudem oft keineswegs Mangelware, sondern Teil der Wohnung oder Siedlung: Balkone, Loggien, Terrassen und begrünte Innenhöfe vergrössern kleinere Wohnungen, und es lebt sich gleich viel angenehmer darin.

 

Moderne, begrünte Wohnhochhäuser haben diese Vorteile doch auch.

Nein, denn das Begrünen funktioniert nicht: Der berühmte «Bosco Verticale» in Mailand ist ein Flop, oder sagen wir mal: ein Marketing-Gag. Die BewohnerInnen dürfen diesen «Garten» nicht selber pflegen und auch nichts daran verändern. Dafür ist ein Gartenbauunternehmen zuständig. Abgesehen davon ist ein angenehmer Aufenthalt im Freien in den oberen Stockwerken eines Hochhauses, ob mit oder ohne Bepflanzung, kaum möglich. Hochhäuser erzeugen lokal Turbulenzen und Fallwinde. Sie beeinflussen auch das Stadtklima: Insbesondere wenn viele Hochhäuser nahe beieinander stehen, behindert das den nächtlichen Kaltluftdurchzug, was wiederum zur Überhitzung der Städte beiträgt. Umgekehrt beschatten sie die Nachbarschaft. Sind dort Solaranlagen montiert, können sie deren Ertrag schmälern. Hochhäuser sind zudem systembedingt 20 bis 40 Prozent aufwändiger und teurer als die Flachbauweise, und zwar in allen Phasen, von der Planung über die Erstellung, den Betrieb und Unterhalt bis hin zur Renovation und zum Rückbau.

 

Weshalb ist das so?

Gründe dafür sind unter anderem höhere Anforderungen an die Statik, aber auch an Haustechnik, Feuerschutz und Erdbebensicherheit. Für die gleiche Nutzfläche sind im Hochhausbau ausserdem grössere Erschliessungs- und Konstruktionsflächen nötig als im urbanen Flachbau; das geht ins Geld. Der ökologische Fussabdruck ist ebenfalls wesentlich grösser, unter anderem wegen des höheren Anteils von grauer Energie; das widerspricht den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft, zu denen sich die Stadt Zürich bekennt. Weil Hochhauswohnungen systembedingt teurer sind, leisten sich die Mieter oder Käufer oft eine grosse Wohnfläche. Das ist das Gegenteil von Verdichtung und fördert die Gentrifizierung. Mit einem charmanten Lächeln erklären uns dann Politiker aus dem rechten Lager, man solle sich doch ausserhalb der Stadt etwas Günstigeres suchen, wenn man sich die Stadt nicht mehr leisten könne. Oft sind das Leute, die in einem Quartier aufgewachsen sind und höherer Renditen wegen aus der Stadt vertrieben werden. Wohnhochhäuser werden vor allem zwecks Gewinnmaximierung gebaut.

 

Wer in Zürich in den Hardau-Türmen oder im Lochergut wohnt, gehört kaum zu den Reichen und hat weniger Wohnfläche pro Kopf zur Verfügung als der Durchschnitt.

Über die «Unwirtlichkeit unserer Städte» hat Alexander Mitscherlich alles Wissenswerte geschrieben: Wenn man richtig baut, und zwar richtig im Sinne von human und sozialverträglich, dann ist solch menschliche Käfighaltung nicht nötig, dann müssen die Menschen nicht wie Batteriehühner hausen.

 

Es gibt durchaus Menschen, die gern in Hochhäusern wohnen und die tolle Aussicht geniessen…

Befragt man die Menschen in der Schweiz, wie sie leben möchten, dann träumen die meisten vom Haus mit Garten oder etwas Vergleichbarem: Ein Ort mit genügend Platz, ein Ort, an dem sie mitreden und mitbestimmen können und sich sicher fühlen. Würden die StädteplanerInnen die Menschen ernst nehmen, für die sie angeblich bauen, dann hätten wir in Zürich vor allem urbane Flachbauten mit vier bis fünf Stockwerken und sechs bis acht Partien pro Hauseingang.

 

Warum nur sechs bis acht Partien?

Weil es sich dabei um eine überschaubare Grössenordnung handelt. Die Menschen in solchen Mehrfamilienhäusern kennen ihre NachbarInnen, und die Kinder können in den begrünten Innenhöfen miteinander spielen, ohne dass stets jemand auf sie aufpassen muss. Spricht man mit KinderärztInnen, erzählen alle dasselbe, nämlich, dass es Kindern nicht gut tut, in Hochhäusern aufwachsen zu müssen. Kleine Kinder dürfen nicht allein Lift fahren, auch grössere Kinder fühlen sich dort oft unwohl, und ihre meist sonst schon gestressten Eltern müssen sie nach draussen begleiten. Dabei ist es für eine gesunde Entwicklung essenziell, dass Kinder die Welt selbstständig entdecken können, ohne ständige Überwachung durch Erwachsene.

 

Die künftigen NeuzuzügerInnen Zürichs sollten also in urbane Flachbauten mit vier bis fünf Stockwerken ziehen: Wo findet sich das Bauland für all diese Neubauten?

Am Stadtrand, z.B. in Richtung Spreitenbach, sehen wir im Siedlungsgebiet viele unbebaute Grundstücke und unternutzte Einfamilienhausquartiere. Wer sagt denn, dass das ganze künftige Bevölkerungswachstum gewissermassen innerhalb der Stadtmauern stattzufinden hat? Anstatt alle Neuzuzüger in die Stadt zu zwängen und erhöhtem Dichtestress auszusetzen, verdichtet man besser auch über die Stadtränder hinaus und schafft dem Bedarf entsprechend Gartenstadt-Siedlungen.

 

In Zürich sind wir denmanch nicht so fortschrittlich unterwegs, wie wir gerne glauben?

Beispielsweise in Holland gäbe es interessante Siedlungen und Wohnbauformen mit hoher Dichte zu besichtigen. Sie zeigen, wie sich städtische Quartiere heutzutage gestalten lassen – ohne Hochhäuser, dafür mit viel Grün und überschaubaren Nachbarschaften. Was wir nicht nur in Zürich tatsächlich praktizieren, beschrieb Berthold Brecht bereits 1935: «Sie sägten die Äste ab, auf denen sie sassen // Und schrien sich zu ihre Erfahrungen // Wie man schneller sägen könnte, und fuhren // mit Krachen in die Tiefe, und die ihnen zusahen // Schüttelten die Köpfe beim Sägen // und sägten weiter.» Zerstörerisches Wachstum, immer mehr, immer höher!

 

Sie empfehlen unseren StadtplanerInnen also, die Säge in die Ecke zu stellen – und was dann?

Die Zukunft liegt im urbanen Flachbau, sie liegt aber auch im preisgünstigen, gemeinwohlorientierten Wohnen und massvoller Flächenbelegung pro Person. Kommunaler Wohnungsbau ist gut, genossenschaftlicher Wohnungsbau noch besser: Genossenschaften sollten kommunales Land im Baurecht erhalten, die GenossenschafterInnen könnten mitreden und selbstbestimmt wohnen, die Stadt hätte Einnahmen in Form von Baurechtszinsen – und die gewinnorientierten Firmen, denen die Menschen nebensächlich sind und die nur das Maximum aus ihren Wohnungen herausholen wollen, die hätten das Nachsehen.

 

* Die Ausnützungsziffer umschreibt das Verhältnis der Summe der Wohn- und Arbeitsflächen in Vollgeschossen zur   Grundstücksfläche. Beispiel: Bei einer Ausnützungsziffer von 40 Prozent dürfen auf einem Grundstück von 1000 m2 Fläche maximal 400 m2 Geschossfläche erstellt werden.

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