Zeitfaktor

Geschichte lässt sich nur rückwärts verstehen, was aber voraussetzt, sich mit ihr auch kritisch auseinanderzusetzen.

 

Entdeckergeschichten aus dem 19. Jahrhundert, Architekturwürfe für ein besseres Zusammenleben, die Mainstreamwerdung einer Subkultur – die US-amerikanische Autorin, Filmemacherin, Installationskünstlerin und Kunstprofessorin Renée Green (*1959), lässt kein Feld brach liegen. Ihre Hinterfragungen stellen die ursprüngliche Absicht hinsichtlich ihrer Redlichkeit, die tatsächlich aufgetretenen Begleiterscheinungen, die vielfältig interpretierbaren Spätfolgen bis hin zur Verkehrung ins Gegenteil und immer auch die Bereitschaft, sich diesem Prozess überhaupt auszusetzen, zeitgleich als Dringlichkeit dar und stellt sie wiederum zur Disposition. Ohne aufsässig zu wirken, gilt das Interesse marginalisierten Gesellschaftsteilen und der Veränderung ihrer von aussen geschehenden Zuschreibung respektive selbst kämpferisch errungenen (Teil-)Emanzipation und befragt die dannzumal als Utopien Gültigkeit errungenen Handlungen auf ihre Zeitwertigkeit.

 

«Inevitable Distances» (dt. unvermeidliche Entfernungen) nimmt die Vielfältig- und Vielstimmigkeit zur Kenntnis und versteht sich als Einladung, sich mittels ihrer Werke auf einen vorerst befristeten Perspektivenwechsel einzulassen. Also das, was heute so salopp ergebnisoffen genannt wird, für einen Augenblick auch ernst zu nehmen und den Fokus für einmal auf alles jenseits des eigenen Tellerrandes zu richten. Anknüpfungspunkte finden sich zuhauf und ganz augenscheinlich versteht sie raffiniert, den intellektuellen Überbau und die sinnliche Ausstellungserfahrung als notwendigerweise gleichzeitig fassbar in einem Werk zu kombinieren. Der Schnelldurchlauf wie das profunde Eintauchen sind gleichermassen möglich. Allein die Texttafeln zur Kontextualisierung dürften deutlich über Schritthöhe angebracht oder gleich in ein Saalblatt zum mitnehmen ausgelagert sein. Nobody’s perfect…

 

Renée Green: «Inevitable Distances», bis 8.1.23, Migrosmuseum für Gegenwartskunst, Zürich.

 

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