Zehn Prozent. Punkt.

Die Krankenkassenprämien explodieren, die Löhne nicht. In einer Podiumsdiskussion der SP Kanton Zürich zum Thema waren sich am Dienstagabend (wenig überraschend) alle Teilnehmer:innen einig: Es braucht die Prämienentlastungsinitiative.

Mit etwas unsicherem Stand, aber dafür umso überzeugter meldet sich im Sitzzungszimmer des Glockenhofs eine ältere Frau zu Wort, sobald die Podiumsdiskussion der SP Kanton Zürich zur Prämienentlastungsinitiative für das Publikum geöffnet wird: Sie sei die letzten drei Jahre nicht zum Hausarzt zur Kon­trolle gegangen. «Aus Angst, dass ich mir die Behandlung eines möglichen gesundheitlichen Problems nicht leisten kann.» Vielleicht könne die Caritas helfen, antwortet Moderator Simon Jacoby und meint damit Isabelle Lüthi, Projektleiterin Grundlagen & Sozialpolitik der Caritas, die neben ihm auf dem Podium sitzt. Gleichzeitig mutet dieser Satz symp­tomatisch an für die Lage, in der sich viele Schweizer:innen befinden: Eine magere AHV, stetig steigende Krankenkassenprämien, eine hohe Franchise und kein Geld, um diese im Krankheitsfall zu bezahlen. Und die Unterstützung kommt nicht von Vater Staat, sondern vom Hilfswerk: Lüthi legt der Seniorin nahe, sich telefonisch bei der Caritas zu melden.*

Reale und aus der Luft gegriffene Zahlen 

Knapp jede:r fünfte Schweizer:in gehe aus Kostengründen nicht zum Arzt, sagt Philippe Luchsinger, Präsident des Verbands Haus- und Kinderärzte Schweiz (MFE), zur Wortmeldung. Besonders schlecht stehen, wie Mattea Meyer, Co-Präsidentin der SP Schweiz, ergänzt, Familien mit geringem Einkommen da, insbesondere diejenigen, die gerade zu viel verdienen, um Prämienverbilligungen zu erhalten. Die Folge: Über die Hälfte aller Schweizer Familien komme nur noch knapp über die Runden, im Schnitt werden 14 Prozent des Einkommens für Krankenkassenprämien verbraten.

Um diesem «Wahnsinn» entgegenzuwirken, da sind sich Pu­blikum und Podium einig, müssen die Prämien mit der Prämienentlastungsinitiative gedeckelt werden. Und zwar auf «höchstens zehn Prozent des verfügbaren Einkommens», wie es im Abstimmungstext heisst. Eine schwammige Formulierung, findet eine Person aus dem Publikum. Das müsse so sein, entgegnet Mattea Meyer. Reto Wyss, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) betont, das Gute an der Initiative sei ihre schlichte Klarheit. «Zehn Prozent. Punkt.» – das sei schon ein Erfolgsfaktor der 13.-AHV-Initiative gewesen.

Und woher kommt denn nun das Geld für die Umsetzung der Ini­tiative? «Das einzige Argument auf den Plakaten der bürgerlichen Gegner:innen ist, dass die Initiative den Mittelstand 1200 zusätzliche Franken Mehrwertsteuer im Jahr koste», antwortet Meyer.  Erstens führe die Initiative zu keinem Franken Mehrkosten und zweitens seien diese Zahlen, die von über 1000 Franken Mehrkosten sprächen, «komplett aus der Luft gegriffen». Im Gegensatz zu den Zahlen, dass heute eine vierköpfige Familie über 1000 Franken Krankenkassenprämien mehr bezahlt als noch vor einem Jahr. «Das ist die Realität, und über diese Realität muss diskutiert werden.» 

Gefahr der Zweiklassenmedizin

Insgesamt verläuft die Podiumsdiskussion recht geradlinig – schliesslich stehen alle Gäste auf dem Podium hinter der SP-Initiative. Und auch darüber, dass die Kostenbremse-Initiative bzw. ihr Gegenvorschlag keine Alternativen sind, herrscht Einigkeit im Saal. «Die Kostenbremseninitiative sagt, dass die Prämien wieder in Gleichschritt mit der Lohnentwicklung kommen sollen – aber sie sagt nicht, mit welchen Massnahmen», mahnt Nationalrätin Meyer. Deshalb sei die Angst gross, dass am falschen Ort gekürzt werde: zum Beispiel bei der Pflege oder der Grundversorgung. Und: Das Parlament sei nicht willens, am richtigen Ort anzusetzen, wie man am Beispiel der Vorlage von Alain Berset aus dem Herbst 2023 zur Senkung der Generikapreise erkenne: «Diese Vorlage hätte hunderte Millionen Franken bzw. über ein Prämienprozent Sparpotenzial gehabt.» Aber sie sei in der Gesundheitskommission und im Parlament abgelehnt worden – unter Federführung von SVP-Nationalrat Thomas de Courten, Präsident von Intergenerika Schweiz, der natürlich nicht an tieferen Generikapreisen interessiert sei. Honni soit qui mal y pense. Dies sei nur eines von vielen Beispielen, wie Pharmalobbyist:innen im Parlament den wichtigen Schritt, die Kosten des Gesundheitswesens in den Griff zu bekommen, verhindern. Luchsinger resümiert: «Wenn die Kostenbremse-Initiative angenommen wird, laufen wir in eine Zweiklassenmedizin hinein, in der sich gewisse Leute gewisse Behandlungen leisten können und der Grossteil der Leute halt nicht.» Er fände es unverständlich, wie man so etwas Undifferenziertes auf ein so feintariertes Gesundheitswesen loslassen könne. «Wenn man beim Gesundheitswesen am falschen Rädchen dreht, fällt der ganze Karren auseinander.» Was denn eine differenzierte Lösung sei, fragt Jacoby. «Um das alles zu erklären, habe ich heute wohl zu wenig Zeit», lautet die Antwort. Die Generikapflicht zum Beispiel sei aber ein Anfang.

Auf die Frage, ob man nach positiven Umfrageresultaten von Anfang Mai (56 Prozent Zustimmung) optimistisch sei, fallen die Antworten erwartet zögerlich aus – auch zumal der Anteil der Ja-Stimmen zu Initiativen bis zum Abstimmungstermin tendenziell noch sinkt. Meyer betont aber: «Es ist unbestritten, dass wir mit dieser Initiative ein reales Problem anvisieren, dass die Krankenkassenprämien ein Fass ohne Boden sind.» Sie habe schon auf zig Podien bürgerlichen Politiker:innen eine Frage gestellt, die noch niemand habe beantworten können: «Wann ist eigentlich genug? Wenn die Krankenkassenprämien durchschnittlich 20 Prozent des Einkommens auffressen? Oder 25? 50?»

* Telefonische Kurzberatung für Familien und Personen in Not der Caritas Zürich: Montag bis Donnerstag, 13.30–17.00 Uhr, Telefon 044 366 68 28