Wo Wo Wohnraum neu denken

Am Freitag letzter Woche fand an der ETH Zürich das Wohnforum 2023 statt. Der Hauptfokus lag auf dem ‹Generationenwohnen›. Auffallend waren eine sehr positive Grundstimmung gegenüber dem, was bisher ausprobiert wurde, leichte Unsicherheiten gegenüber der Umsetzung von neuen Wohnformen – und verhalten formulierte, aber durchaus harsche Systemkritik.

Wie wohnt die Gesellschaft der Zukunft? Die Antwort am Wohnforum der ETH Zürich war einstimmig: Sie wohnt intergenerationell. Oder man hoffte an der Tagung zumindest, dass es in diese Richtung geht. Neue Wohnformen sind wichtig, nötig – aber sind sie nicht ein Nischenthema? Zu spezifisch, um im breiteren Kontext gelebt und umgesetzt zu werden? 

Die Anwesenheitsliste der Tagung war so homogen wie gleichzeitig divers: Von Immobilienverwalter:innen der Pensionskassen über Raumplaner:innen und Angestellte von Gemeinden bis hin zu den Stiftungsmitarbeiter:innen mit Fokus Bauwesen – lediglich die Bauherren der ganz grossen Immobilienfirmen, die waren rar bis nicht vor Ort. So breit, so divers, aber gleichzeitig auch so nah beieinander, denn die Anwesenden hatten allesamt ein ähnliches Ziel vor Augen: ausserhalb des momentanen Standards für Wohnraum nach neuen Lösungen für die Probleme der Zukunft, aber auch der Gegenwart zu finden. Oder anders gesagt: Das Stichwort Profitmaximierung wäre am Freitag letzter Woche an der ETH etwas fehl am Platz gewesen. Und so systemkritisch man auch war, wie beispielsweise, als eine Rednerin völliges Unverständnis dem grundlegenden Konzept der Privatisierung von Boden entgegenbrachte und darauf pochte, das Kollektivverständnis voranzubringen, so wenig Einwände seitens derer, die den Boden privatisiert haben, wurden geäussert. Vielleicht trauten sie sich auch nicht, wenn es um solidarisches Zusammenleben geht, über privatisierten Boden zu sprechen – aber wahrscheinlicher ist, dass sie einfach nicht da waren. Aber vielleicht war das auch gut so, weil, wie sich während der Tagung zeigen sollte, Wohnen viel komplizierter ist, als man erwarten würde. Ein engstirniger Fokus auf das Finanzielle wäre dabei kontraproduktiv. 

Vereinsamung

Zunächst musste festgestellt werden, wo denn überhaupt die Probleme der Gegenwart bezüglich Wohnraum festzumachen sind. Wieso muss dem Generationenwohnen überhaupt so viel mehr Beachtung geschenkt werden? Pasqualina Perrig-Chiello, Professorin an der Universität Bern, widmete ihren Vortrag unter anderem einem Thema, über das nicht gerne gesprochen wird: der Einsamkeit. Und die Epidemie der Einsamkeit ist schon längst daran, sich auszubreiten. Nicht umsonst hat Grossbritannien schon seit 2018 – also noch vor der Pandemie, in deren Kontext das Thema Einsamkeit etwas an Aufsehen gewonnen hat – eine Einsamkeitsbeauftragte. Sie wurde in Reaktion auf eine unangenehme Beobachtung besetzt, im UK gelten rund neun Millionen Personen als einsam. Das hat auch mit dem Standard bezüglich Wohnraum zu tun. Wer abgekapselt in einer Wohnung sitzt und für den einzigen alltäglichen Kontakt mit dem unmittelbaren räumlichen Umfeld vielleicht mal gegen den Lärm von unten auf den Boden stampft oder mit dem Besenstiel an die Decke schlagend gegen den Staubsauger im Obergeschoss ankämpft, vereinsamt. Eine Kehrseite der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung, die durch diese Abkapselung zu sozialer Exklusion führen können. Oder in den Worten von Pasqualina Perrig-Chiello: «Je mehr ich auf mich schaue, desto einsamer werde ich mich machen.» 

Die Einsamkeit ist eine hartnäckige Epidemie: Nicht nur macht Vereinsamung krank, sie ist schwierig vorzubeugen, die Intervention ist teuer und kompliziert und sie ist ein Tabuthema. Zudem weitläufig verbreitet, wenn auch bei den älteren Generationen besonders auffällig, obschon Pasqualina Perrig-Chiello betonte, dass «die Demografisierung sozialer Probleme» vom Eigentlichen ablenke: Einem System, in dem alle für sich schauen. Kein Wunder also, nehmen die Einpersonenhaushalte ganz generell zu. Und wie bricht man den Trend? Mit Gemeinschaft! Aber: Intergenerationelle Solidarität ist keine Selbstverständlichkeit. Und sie ist auch nicht allgemeingültig. Weil: Generationenthemen sind auch Genderthemen. Hohe Solidaritätserwartungen gelten insbesondere für Frauen. Wenn Wohnraum neu gedacht werden will, muss es auch die Care-Arbeit.

Ver-, für- und vorsorgen

Diesem Thema widmete sich die Raumplanerin Barbara Zibell, eine Forscherin, die sich mit feministischer Methodik den raumplanerischen Herausforderungen anzunähern versuchte. Und sie stellte fest: Wir müssen von einer anderen, akkurateren Definition des Wohnens ausgehen. Denn Care-Arbeit ist nicht nur Pflege und Fürsorge, sondern umfasst auch das Versorgen und Vorsorgen im Wohnkontext. Die Charta von Athen, die 1933 von Stadtplanern und Architekten verabschiedet wurde, gilt als Grundlage für die Aufgaben, die die moderne Siedlungsentwicklung zu erfüllen hat: Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen. Die Arbeit wird dabei als Aspekt im Städtebau gesehen, der mit der Siedlung, wo gewohnt, erholt und bewegt wird, verbunden werden muss. Dass (unbezahlte, nicht als Arbeit gewürdigte) Arbeit aber auch da geleistet wird, wo gewohnt wird, berücksichtigte die Charta nicht. Reine «Schlafstädte», also Siedlungen, in denen nicht gearbeitet wird, existieren nur für die, die einen «entsorgten Alltag» haben – wenn die Arbeit im Wohnraum ‹outsourced› wird. Ein neuer Ausgangspunkt ist gefragt: Wohnen sei nicht nur Wohnraum, Erholung und Bewegung, sondern auch Schutz (durch Verortung und Identität), Versorgung (Existenz und Subsistenz) und Integration (Familie, Nachbarschaft, Gemeinwesen). Und mit diesem neuen Ausgangspunkt würde das Quartierleben gestärkt – und die Quartiere in ihrer Rolle als Vorreiter und Impulsgeber ebenso.

«Es gibt nicht die Raumplanung», fasste Barbara Zibell zusammen: «Raumplanung folgt immer Modellen, Konzepte, Gesetzen und Prinzipien.» Und diese muss man anpassen – indem Politik, Raumplanung und die Immobilienwirtschaft zusammenarbeiten und der sektoriale Aufbau, dass alle für sich denken, neu gedacht wird.

Hürdenlauf

Die Umsetzung des Umdenkens scheitert jedoch oft an der Finanzierung, merkte eine Zuschauerin an. Das Problem sei, dass neuartige Ideen oft in den Gremien und Verwaltungsräten ins Stocken geraten und schliesslich übergangen werden. Was soll man mit den renditegetriebenen Finanzmenschen in der Chefetage tun? Barbara Zibell räumte ein, dass das ein nicht individuell lösbares Problem ist – sondern vom Umdenken abhängig ist. Wirtschaft sollte etwas sein, das der Bevölkerung dient, sie muss den Support leisten, um leben zu können. Kritische Raumplaner:innen tauschen sich seit Jahrzehnten aus, die Vernetzung ist vorhanden, aber es scheitert an der Rezeption. 

Dass Bedarf für neue Wohnformen aber vorhanden ist, zeigte sich in der anschliessenden Podiumsdiskussion, wo unter anderem SP-Ständerätin und Präsidentin der Wohnbaugenossenschaften Schweiz Eva Herzog mitdiskutierte. Sie merkte an, dass es nicht allzuviele Menschen gibt, die intergenerationell wohnen – eine gewisse Nischenhaftigkeit habe das Generationenwohnen durchaus. Was nicht heisst, dass ein ausgebautes Angebot mit solchen Wohnformen nicht nötig oder wünschenswert sei. Der Bedarf an gemeinschaftlichem Zusammenwohnen zeige sich bei den Genossenschaften, wo viele Zuziehende genau dieses Gemeinschaftliche schätzen würden. Und das Modell der Genossenschaften zeige weiter, dass auch das Profitmodell funktioniert. Christian Wenger, Geschäftsleitungsmitglied in der Immobilienbewirtschaftung bei der Pensionskasse ‹Pensimo› kritisierte weiter, dass die Frage «Wie wohnen Menschen?» zu wenig berücksichtigt wird – weil viele Bauträger im Anlagewesen ein klares Stakeholder-Denken hätten. Aus seiner Erfahrung bewähre es sich, den Schritt zu wagen. Und finanziell sei es gar nicht ein so grosses Risiko, wie der Gegenwind zu Beginn solcher Projekte seitens des renditegetriebenen Standards vermuten liesse. Besonders gut argumentieren müsse man aber trotzdem. Der Leiter der Fachstelle Alterspolitik und alt-Stadtrat von Schaffhausen Simon Stocker bekräftigte Christian Wengers Aussagen. Auch politisch seien solche Ideen schwierig durchzubringen. Aber: Alte wollen nicht lediglich unter Alten leben. Und neue Wohnformen sind auch nicht immer organisierte Wohnformen, sondern fördern primär Durchmischung. Das wünschen sich viele. Zudem können bauliche Massnahmen, wie solche zugunsten von Barrierefreiheit, eine organische Durchmischung zur Folge haben – Kinderwagen und Rollstühle haben infrastrukturell nicht unähnliche Ansprüche. 

Daueraufgabe

Am Nachmittag ging es schliesslich – in zeitbedingter Abwesenheit des P.S. – um die praktischen Umsetzungen des Generationenwohnens, wo sich Bewohner:innen und Wohnformen-Planer:innen über Alltagsbeobachtungen, persönliche Eindrücke und interne Prozesse austauschten. Ein nicht minder spannender Einblick, wenn auch die Ma­kroebene die grossen Probleme der Wohnbaupolitik etwas prägnanter zum Ausdruck bringen konnten, als es die Mikrokosmen der einzelnen Projekte taten. Gut also, versuchten die Co-Leiterin des Kompetenzzentrums Partizipative Gesundheitsversorgung Heidi Kaspar und Wohn- und Gesundheitsforscher Ulrich Otto die Erkenntnisse des Tages in eine kürzere, resümierte Form zu bringen. Bei allem Lärm um ‹neue› Wohnformen schien nämlich etwas ein wenig in den Hintergrund gerückt zu sein: Generationenwohnen ist nicht nur die Wohnform der Zukunft, sondern auch der Vergangenheit. Sie muss nur neu gedacht werden. Miteinanderwohnen heisst nicht aufeinanderwohnen, sondern die Nachbarschaft gemeinschaftlich zu gestalten, ein neues Verständnis der Nachbarschaft aufzubauen, die von gemeinsamen Werten getragen wird. Ziel sind Gemeinschaften, die füreinander Sorge tragen – und nicht etwa Care-Arbeit auf eine Gruppe oder Rolle zu projizieren. Und weil Arbeit mitgedacht werden muss, wird umso klarer: Zusammenleben ist manchmal wunderschön, und manchmal auch ein bisschen anstrengend. 

Und wie das Zusammenleben, ist auch die Entwicklung einer neuen Raumplanung manchmal anstrengend. «Wie toll, dass ihr dranbleibt», lobte Ulrich Otto. Gerade wenn das Neudenken fordernd und die Konzepte für viele ungewohnt seien. Dennoch gebe es viel Unerledigtes. Beispiel Wohnrauminsuffizienz: Obwohl man hierzulande so viel darüber spricht, gibt es wenig Lösungen. Obwohl es nicht ein Wollen, sondern ein Müssen wäre. Aber wie weiter? Nach Ulrich Otto auf jeden Fall nicht «moralinsauer». Die Lösung kann nicht sein, dass alle Alten einfach ihre Wohnfläche reduzieren müssen. Vielmehr sollen alle klugen Konzepte zusammengeführt werden – und noch viel mehr. Angesichts Krieg, Not und Inflation sei weiter sehr fragwürdig, wieso so wenig Radikalisierung in der Ausarbeitung neuer Konzepte entsteht – eine Redimensionierung sei ein Muss. Und Respekt gebühre denen, die dranbleiben. Der Wohnforscher sieht uns vor einer grossen Prüfung: «Wir müssen das Wohnen erst noch lernen, und das ist sicher eine Daueraufgabe.»

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