Katrin Meier: «Es ist unmöglich, die Beurteilungen so zu vereinheitlichen, dass eine sinnvolle und faire Einteilung möglich wäre.» (Bild: Gian Hedinger)

«Wir verlieren extrem viele talentierte Kinder»

Letzte Woche lancierte der Verein «Schule ohne Selektion» in den Kantonen Zürich und Bern eine Initiative zur Abschaffung der Selektion beim Übertritt in die Sekundarschule. Katrin Meier ist Primarlehrerin, aktiv beim VPOD, in der SP und im Vorstand bei «Schule ohne Selektion». Im Gespräch mit Gian Hedinger erzählt sie, wie sie versucht, den Schüler:innen Druck wegzunehmen und weshalb sie momentan Tessiner Schulen genau beobachtet.

Sie haben letzte Woche eine kantonale Initiative lanciert, die einen selektionsfreien Übertritt in die Sekundarschule fordert. Noch ein paar Wochen zuvor haben Sie als Lehrerin die entscheidenden Zeugnisse für den Übertritt verteilt. Wie war das für Sie?

Katrin Meier: Als Lehrerin an einer altersdurchmischten Klasse habe ich jedes Jahr Kinder in der sechsten Klasse und muss jedes Jahr selektionieren. Mir tut es meistens einfach weh. Diese Kinder sind mehrere Jahre bei mir und nach über zwei Jahren, in denen wir gearbeitet haben und ich versucht habe, sie zu stärken, schauen sie auf ihre Mathematik- und Deutschnote und sind nur noch geknickt. Danach kann ich ihnen noch oft sagen, wo sie überall gut sind, sie hören nur, dass sie nicht reichen. 

Wollen Sie die Selektion also abschaffen, weil es ein unangenehmer Teil Ihres Berufs ist?

Nein, ich finde es nicht einmal unangenehm, sondern schmerzhaft. So viele Kinder verlieren zwei bis drei Jahre ihres Lebens. Schauen Sie: Bis zur vierten Klasse freuen sich die Kinder und die Eltern über alles, was gut läuft, egal in welchem Fach. Und ab der 5. Klasse zählen dann nur noch Mathe und Deutsch. Das bricht ganz viele Kinder, weil sie versuchen, Ziele zu erreichen, die sie nicht erreichen können. Dann nehmen die Eltern sie auch noch aus dem Fussballverein oder aus dem Musikunterricht, damit sie sich auf die Schule konzentrieren. Das sind zwei Jahre, wo wir 12-jährigen Kindern zeigen, dass sie nicht gut sind und nicht genügen wegen zwei Noten in ihrem Zeugnis. Wir verlieren extrem viele talentierte Kinder und Jugendliche zu diesem Zeitpunkt.

Können Sie als Lehrperson denn nicht auch Druck von dieser Entscheidung wegnehmen?

Ich versuche es. Jeweils nach den Sommerferien thematisiere ich, wie sie ihre Stärken, Talente und Begabungen entdecken können. Ich will, dass die Kinder zu selbstbewussten Menschen werden, die ihre Stärken kennen, aber auch wissen, woran sie noch arbeiten müssen. Ich versuche ihnen aufzuzeigen, dass sie mehr sind als diese eine Entscheidung. Aber das reicht nicht gegen den gesellschaftlichen Druck. Ich beurteile hunderte von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen, aber am Ende fragt dann der Nachbar oder die Grossmutter trotzdem nur nach Sek A oder B.

Dieser Moment der Einteilung mag zwar hart sein. Aber am Ende profitieren die Kinder doch, wenn sie leistungsgerecht eingeteilt werden und dann mit ähnlich starken Kindern in einer Klasse sind.

Aber die Einteilung funktioniert eben nicht. Alleine schon, wenn Sie schauen, wie im Klassenzimmer nebenan benotet wird, unterscheidet sich das von meiner Beurteilung. Es gibt auch mehrere Studien, die zeigen, dass Kinder, die in der einen Gemeinde in die Sek B eingeteilt werden, in der nächsten Gemeinde in der Sek A wären. Das ist einfach ungerecht. Auch wenn man äusserst sorgfältig selektioniert, wird es nie eine homogene Gruppe geben. Zudem ist das gar nicht das Ziel, denn in heterogenen Klassen müssen individuelle und somit erfolgreiche Lernwege zugelassen werden.

Mittlerweile funktioniert die Selektion in der Stadt Zürich nicht mehr bloss nach A und B, sondern es wird zusätzlich in den Fächern Französisch und Mathematik auch noch auf einer Skala von drei bis eins eine Einteilung vorgenommen. Wird die Selektion dadurch genauer?

Es ist schon hilfreich, aber das Grundproblem bleibt: Es ist unmöglich, die Beurteilungen so zu vereinheitlichen, dass eine sinnvolle und faire Einteilung möglich wäre. Da müsste man sämtliche Prüfungen schriftlich und zur selben Zeit durchführen, das wäre sowohl ein organisatorisches Desaster als auch pädagogisch nicht zeitgemäss. 

Trotzdem kann man doch den Kindern so zeigen: Mathematik ist vielleicht nicht deine Stärke, aber im Französisch bist du in der besten Stufe.

Das ist so, aber funktioniert nur, wenn ein Kind tatsächlich in einem dieser Fächer eine Stärke hat. Wenn aber zur Einteilung in die Sek B dann im Französisch und in der Mathematik noch eine Einteilung in Stufe 3 gemacht wird, ist es eher kontraproduktiv. 

Auch auf der Webseite der Initiative steht, dass eine gerechte Selektion nicht möglich ist. Sie müssen also jedes Jahr etwas entscheiden, das Sie eigentlich abschaffen wollen. Wie gehen Sie da vor?

Ich arbeite sehr individuell mit den einzelnen Kindern und spreche mit ihnen darüber, was sie noch lernen können oder vielleicht auch müssen. So bin ich im Dialog und kann schon früh abschätzen, was für Erwartungen das Kind an sich selber hat und auch, was das Umfeld will. Dann spreche ich natürlich auch mit den Eltern und versuche aufzuzeigen, dass die Sek B auch Vorteile bietet. Die Klassen sind dort kleiner und die Lehrperson kann besser auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Zudem ist es auch keine schöne Erfahrung für das Kind, wenn es hinterher rennt und nicht mitkommt in der Sek A. Aber es bleibt schon so: Wenn eine Selektion auf der Kippe steht und Eltern gemeinsam mit dem Kind entscheiden können, ob Sek A oder B, wählen die meisten trotzdem das A. 

Man liest ja immer wieder von Fällen, in denen Eltern gar mit Anwält:innen gegen die Selektion vorgehen.

Das ist bei mir zum Glück schon länger nicht mehr vorgekommen. Ich finde es schlimm, das zu sehen. Bis es dazu kommt, dass Anwält:innen eingeschaltet werden, gibt es bereits so viele Gespräche. Mit mir als Klassenlehrerin, mit der Schulleitung, sogar mit der Lehrperson aus der Sekundarschule. Wer das dann noch weiterzieht, zeigt dem Kind wieder, dass es nichts Schlimmeres gäbe, als in die Sek B eingeteilt zu werden.

In der Schweiz gibt es eine massive Bildungsungerechtigkeit: Die letzte Pisa-Studie zeigt auf, dass in der Mathematik die Kinder aus dem untersten Viertel der sozialen Herkunft jenen aus dem obersten Viertel fast drei Schuljahre hinterher sind. Schüler:innen in der dritten Sek sind also dann auf dem Niveau einer sechsten Klasse.

Ich denke, wir haben diesen Schüler:innen die Lust am Lernen genommen. Wenn man schon in der Primarschule immer das Gefühl hat, nicht zu reichen, keine Erfolgserlebnisse mehr hat, baut man auch in der Sekundarschule kaum mehr Vertrauen auf. Das wären dann genau die drei Jahre, die diesen Schüler:innen durch die zermürbende Selektion weggenommen wurden.

Wie hilft denn die Initiative konkret gegen diese Bildungsungerechtigkeit?

Indem Sie den Kindern Stress wegnimmt. Kinder sind ja wahnsinnig neugierig und lernfreudig. Jedes Kind löchert einen doch mit Fragen und will die Welt verstehen. Und wir haben es leider geschafft, das System so aufzubauen, dass Kinder keine Freude mehr am Lernen haben. Sie haben dann das Gefühl, dass sie versagt haben, weil sie beispielsweise in der Mathematik die umgekehrte Proportionalität nicht verstehen. Viele Kinder verlieren ab der Mittelstufe die Freude, in die Schule zu gehen, und das darf nicht sein. 

Trotzdem ist die Selektion essenzieller Bestandteil unseres Schulsystems. Kann eine Abschaffung überhaupt funktionieren?

Ich bin fest davon überzeugt, schliesslich gibt es einige Länder, die auf die frühe Selektion verzichten. Aktuell wird im Tessin an sechs Schulen bereits ein Pilotversuch durchgeführt, um zu prüfen, wie sich die Abschaffung der Selektion auswirkt. Bis zur Abstimmung über unsere Initiative hätten wir also konkretes Resultate dazu.

Die Selektion ist doch auch wichtig für die Lehrbetriebe, die so bereits einen Eindruck von der schulischen Leistungsfähigkeit eines Lernenden bekommen. 

Dazu habe ich eine lustige Anekdote: Vor zwei Jahren wurde im Zürcher Kantonsrat über die Abschaffung von Schulnoten diskutiert. Der SVPler René Isler sagte zu Beginn seines Votums: «Etwas pragmatisch ausgedrückt, es braucht Noten in unserem Bildungssystem», und endete mit, «wir sind heute im 21. Jahrhundert so weit, dass wir auf die Zeugnisse verzichten könnten, weil wir keine Handhabung haben.» Sie merken: Die Lehrbetriebe sind gar nicht auf die Selektion angewiesen und wählen ihre Lehrlinge lieber anhand von Multichecks aus. Wir sollten daher dringend die Zeugnisse überarbeiten, so dass sie für abnehmende Betriebe und Schulen aussagekräftig sind.

Die Initiative wurde vom Verein «Schule ohne Selektion» in den Kantonen Zürich und Bern lanciert. Wieso wollen Sie die Selektion nicht gleich landesweit abschaffen?

Das wäre schon das Ziel. Aber einerseits wird die Volksschule kantonal geregelt und andererseits sind wir ein kleiner Verein mit 150 Mitgliedern. Eine nationale Kampagne übersteigt unsere Möglichkeiten bei weitem. Aber Bern und Zürich könnten zusammen mit dem Tessin den Anfang machen.  

Wie sehen Sie die Chancen, dass die Initiative dann tatsächlich angenommen würde?

Das ist schwierig abzuschätzen. Es ist tendenziell sicher ein linkes Anliegen, was die Mehrheitsfähigkeit im Kanton schwierig machen könnte. Aber ich hoffe auch auf die Eltern, die die Selektion auch als anstrengende und schwierige Zeit erleben. Wenn man denen eine Möglichkeit bietet, ihre Kinder zu entlasten, könnten ideologische Überzeugungen sekundär werden und pädagogische Argumente in den Vordergrund treten.

Aktuell will sich ja vor allem die FDP als Bildungspartei inszenieren und die integrative Schule abschaffen.

Das halte ich ehrlich gesagt für realitätsfern. Wir haben gar nicht genug spezialisierte Lehrpersonen, die an Sonderschulen unterrichten könnten. Ich finde, Inklusion muss ein Grundpfeiler unseres Schulsystems sein und glaube, dass die Mehrheit der Lehrpersonen das auch so sieht. Anstatt darüber zu diskutieren, ob man die integrative Schule abschafft, sollte man sich darum kümmern, dass sie besser funktioniert. Vielleicht indem man die Ausbildung in diesem Bereich stärkt, die Unterstützung für Lehrpersonen prüft oder Schulleitungen sensibilisiert. Es braucht ein ganzes Netz, damit Inklusion richtig gelingt. Aber für mich ist klar: Für ein wirklich inklusives Schulsystem darf es keine Selektion geben. Selektion und Inklusion ist ein Widerspruch.