Wir rechnen mit ihnen

 

Das bestimmende Prinzip der Politik in Deutschland ist die repräsentative Demokratie, gepaart mit einer lebhaften Debattenkultur. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind aber vielfältige Modelle politischer Teilhabe entstanden. Einige sind vergleichbar mit den Instrumenten, die man in der Schweiz gut kennt, wie die Volksinitiativen. Andere Ideen kennt man in der Schweiz (noch?) nicht. Ein Beispiel ist der «Bürgerhaushalt», in Deutschland zuerst 2005 im Berliner Bezirk Lichtenberg eingeführt, nach einer Idee aus dem brasilianischen Porto Alegre. Ähnliche Modelle gewinnen auch in Frankreich an Beliebheit, 2014 startete in Paris die erste Runde. Lichtenberg, östlich des S-Bahn-Rings gelegen, nach dem Fall der Mauer eher ein unattraktiver ‹Stasi-Bezirk›, hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer beliebten Gegend mit Tausenden neuen (und günstigen) Wohnungen gemausert. Mittlerweile beträgt die Bevölkerung 270 000 Einwohner.

 

«Wir rechnen mit Ihnen!» – so das Motto des Bürgerhaushaltes, mit dem alle nicht gebundenen Ausgaben des Bezirkes (ungefähr 30 von 700 Mio. Euro) über ein für alle BezirksbewohnerInen, auch Minderjährige und AusländerInnnen, offenes Verfahren verteilt werden. Vorschläge aller Art können über die Website www.buergerhaushalt-lichtenberg.de oder per Post eingereicht werden. Geprüft werden sie durch die Verwaltung und das Begleitgremium, in dem ehrenamtliche BürgervertreterInnen die Mehrheit stellen. Dieses Gremium entscheidet abschliessend, falls keine zusätzlichen Gelder genehmigt werden müssen. Ansonsten gibt es eine Beschlussempfehlung an das Bezirksparlament ab. Alles wird detailliert im Internet aufgezeichnet, wo auch kommentiert und bewertet werden kann.

 

So wurde beispielsweise im September 2014 vorgeschlagen, auf halbem Weg zwischen einer Seniorensiedlung und dem nächstgelegenen Einkaufszentrum Sitzbänke zum Rasten aufzustellen. Auf Grund der geringen Kosten wurde schon im November positiv entschieden, im April 2015 standen dann die Bänke. Ablehnende Entscheide gibt es häufig wegen mangelnder Kompetenzen, etwa bei privatem Baugrund oder bei Nutzungskonflikten. So wurde im neu gestalteten ‹Nibelungenpark› der vorgeschlagene Hundeauslauf mangels Platz abgelehnt. Da half es auch nichts, dass Richard Wagner Hundeliebhaber war – entsprechend negativ fielen die Onlinekommentare der HundehalterInnen aus.

 

Das Verfahren wird kontinuierlich verbessert und vor allem – das Hauptanliegen – beschleunigt. So wurde kürzlich beschlossen, dass sich das Bezirksparlament vier- statt einmal jährlich mit den Vorschlägen der BewohnerInnen beschäftigt, und kostengünstige Vorschläge gleich umgesetzt werden. Seit 2014 stehen zudem mit dem neuen ‹Kiezfonds› jährlich 91 000 € für Projekte aller Art zur Verfügung. Auch hier entscheidet eine Jury aus Bürgerinnen und Bürgern.

 

Ein Knackpunkt ist natürlich die Frage, ob man mit dem Bürgerhaushalt nur eine ‹Beteiligungselite› anspricht. Mit gegenwärtig über 10 000 TeilnehmerInnen (Tendenz steigend) auf der Website und in Begleitworkshops sind zwar nur knapp 4 Prozent der EinwohnerInnen dabei, trotzdem können mit einem solchen Bürgerhaushalt deutlich mehr und andere Leute angesprochen werden als etwa über Parteien oder Quartiervereine. Und vor allem verändert sich durch den Bürgerhaushalt die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, wie der SPD-Bezirksparlamentarier Kevin Hönicke meint: «Die Menschen im Bezirk merken, dass sie Einfluss haben und dass die Politik ihre Probleme zu hören bekommt. Das führt zu einer aktiven Nachbarschaft und zu einem regen Austausch mit der Politik, der ohne Bürgerhaushalt nicht so ziel- und problemorientiert funktioniert.»

 

In Zeiten von tiefen Wahlbeteiligungen und Politikverdrossenheit können solche Modelle, gerade auch mit Hilfe der Digitalisierung, die Demokratie wesentlich stärken. Vielleicht mag man auch in der Schweiz – jenseits von Volksabstimmungen – mitexperimentieren?

 

Emanuel Wyler

In der Rubrik «Berliner Fenster» berichten Exil-SchweizerInnen in loser Folge.

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