«Wir müssen unser politisches Gesicht zeigen»
Jacqueline Fehr polarisiert auch als Regierungsrätin, erst kürzlich sorgte sie mit ihrer Aussage über die privilegierten Seegemeinden für erhitzte Gemüter. Wieso sie eine faire Lastenverteilung unter den Gemeinden als unabdingbar für einen erfolgreichen Kanton Zürich sieht, erklärt sie im Gespräch mit Zara Zatti.
Zara Zatti
Frau Fehr, seit vier Jahren sind Sie jetzt Regierungsrätin. Schaut man in Ihre Legislaturbilanz, so haben Sie in dieser Zeit viel erreicht. Was stellte für Sie die grösste Herausforderung dar?
Jacqueline Fehr: Meine Direktion kümmert sich um eine grosse Vielfalt an Themen. In all diesen Bereichen konnten wir viel bewegen. Ein Beispiel ist das Projekt «Gemeinden 2030»: Zusammen mit Gemeindevertreterinnen und Gemeindevertretern diskutierten wir, was es braucht, damit die Gemeinden im Kanton Zürich auch in Zukunft stark und funktionsfähig sind.
Mit der Erarbeitung von sieben Leitsätzen zum Verhältnis zwischen Staat und Religion konnten wir eine breite öffentliche Diskussion über die Bedeutung von Religionsgemeinschaften in einem liberalen und modernen Staat anstossen. Ausserdem ist es uns gelungen, Hilfe für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bereitzustellen und die Aufarbeitung der Fälle durch Archivarbeit voranzutreiben.
Im Justizvollzug galt es, schwierige Ereignisse zu meistern, aber auch Reformen anzustossen wie zum Beispiel im Bereich der U-Haft. In Anbetracht der vielfältigen Themen bestand die Herausforderung für mich zum grossen Teil darin, allen Bereichen stets die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und die Projekte durch Entscheide zum richtigen Zeitpunkt voranzutreiben.
Was bereitet Ihnen am meisten Freude an Ihrem Amt?
Die allergrösste Freude bereitet mir die Zusammenarbeit mit unseren ausgezeichneten Mitarbeitenden. Sie alle sind Expertinnen und Experten, die über ein grosses Know-how verfügen und ein wahnsinniges Engagement und viele Ideen einbringen, um voranzukommen.
Wie schwierig war für Sie der Sprung vom Parlament in die Regierung?
Der Wechsel kam für mich zum richtigen Zeitpunkt. Als junge Frau wäre ich wohl zu rebellisch für ein Exekutivamt gewesen. Im Parlament konnte ich sehr pointiert politisieren. Doch schon als Parlamentarierin entwickelte ich die Fähigkeit, Brücken zwischen den verschiedenen politischen Polen zu bauen, um gute Lösungen zu finden, etwa bei der Krippenfinanzierung oder der Mutterschaftsversicherung. Diese Eigenschaft hilft mir auch heute als Regierungsrätin: Wir sind nicht sieben Einzelkämpfer oder Einzelkämpferinnen, sondern arbeiten als Team zusammen.
Nach eigener Aussage finden Sie es aber auch als Regierungsrätin wichtig, zu politisieren und tun dies auch.
Sicher! Wir Regierungsrätinnen und Regierungsräte sind politische Personen. Die Menschen, die uns wählten, haben das Recht zu wissen, was wir denken – und zwar nicht nur über Themen in unserem eigenen Zuständigkeitsbereich. Darauf basiert schliesslich unsere Demokratie. Wählerinnen und Wähler wollen wissen, ob ihre Lebensrealität und ihre politischen Vorstellungen in einem Gremium vertreten sind. Deshalb müssen wir unser politisches Gesicht zeigen und zu politischen Fragen Stellung nehmen.
Sie haben das Thema Gemeinden angesprochen. Die Unterschiede bei den Sozialkosten steigen, dies zeigte auch der Gemeinde- und Wirksamkeitsbericht 2017. Damals sagten Sie, der Finanzausgleich funktioniere, der Regierungsrat sehe keinen Bedarf für einen Soziallastenausgleich. Sind Sie noch der gleichen Meinung?
Ich habe den Soziallastenausgleich auch nach dem Wirksamkeitsbericht bewusst auf der Agenda behalten. Die Zahlen sprechen für sich: Der Entscheid des Regierungsrates konnte nur ein Zwischenresultat sein. Die Unterschiede im Kanton Zürich sind riesig: Während Erlenbach für alle sozialen Leistungen vier Prozent des gesamten Budgets aufwendet, sind es in Dietikon ganze 27 Prozent. Die Agglomerationsgemeinden müssen hohe Leistungen erbringen, und sie tun dies zu Gunsten des gesamten Kantons. Damit dies weiterhin möglich bleibt, brauchen sie aber auch die Unterstützung des ganzen Kantons.
Wie soll diese Unterstützung konkret aussehen?
Es braucht Instrumente für einen fairen Ausgleich. Und zwar für jedes Gesetz eine massgeschneiderte Lösung. Im Kinder- und Jugendgesetz ist ein solcher Mechanismus bereits enthalten. Nun soll dies auch bei den Ergänzungsleistungen und in der Sozialhilfe geschehen. Bei den Ergänzungsleistungen geht es in erster Linie darum, den Kantonsanteil zu erhöhen, da die Gemeinden bei diesen Leistungen keine Gestaltungsmöglichkeiten haben. Bei der Sozialhilfe ist eine sogenannte Teil-Pool-Lösung vorgesehen. Die Kosten sollen nur teilweise gemeinsam getragen werden. Denn hier haben die Gemeinden tatsächlich einen gewissen Einfluss auf die Höhe der Kosten. Deshalb sollen hier die Gemeinden die Hälfte der Kosten selbst tragen, die andere Hälfte soll in einen Ausgleichs-Pool fliessen.
Ihre Kritik an den Seegemeinden sorgte für Unmut. Entwickelte sich daraus eine konstruktive Diskussion?
Auf jeden Fall. Für Unmut sorgte vor allem meine Aussage, dass die tiefen Steuerfüsse der Seegemeinden nicht das Resultat einer besseren Finanzpolitik sind, sondern in erster Linie daher kommen, dass die Seegemeinden im Gegensatz zu den Zentren und Agglomerationsgemeinden weniger Leistungen erbringen müssen und zusätzlich von der privilegierten Lage profitieren. Kurz: Ich habe klar gemacht, dass Privilegien nicht dasselbe sind wie Leistung. Diese Entzauberung von wegen besserer Politik hat sie im ersten Moment verärgert. Mittlerweilen stelle ich aber fest, dass viele erkannt haben, dass wir das Problem nur gemeinsam lösen können.
Ist in den Agglomerationsgemeinden bereits ein Widerstand gegen das Wachstum zu spüren?
Das Nein zur Limmattalbahn in der Region rund um Dietikon war ein klares Zeichen dieses Unbehagens. Unsere zentrale Aufgabe beim Wachstum besteht darin, den Menschen ein lebenswertes Zuhause zu schaffen. Dazu müssen aus den Agglomerationsgemeinden richtige Städte werden. Denn das Leben in den Städten ist sehr attraktiv. Zu einer Stadt gehören gestaltete Überbauungen, genossenschaftlicher Wohnungsbau, soziale Einrichtungen wie Gemeinschaftszentren, eine bezahlbare Kinderbetreuung, kulturelle Angebote und eine gute Alterspolitik. Diese Investitionen müssen die Gemeinden finanzieren können. Sind sie dazu nicht mehr in der Lage, erleben die Menschen das Wachstum als eine Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Dies wiederum führt zu grösserem Widerstand gegen das Wachstum.
Für die Gemeinden wird es auch immer schwieriger, Nachwuchspolitiker zu finden. Ist das Milizsystem ein Auslaufmodell?
Im Gegenteil. Das Milizsystem hat Zukunft. Es braucht aber modernere und professionellere Bedingungen, die der heutigen Zeit angepasst sind. Wer ein Gemeinderatsamt inne hat, der soll zum einen angemessen entschädigt werden. Wir müssen es aber auch schaffen, vermehrt jüngere Leute und Frauen zu rekrutieren. Dazu muss man eine Arbeitskultur schaffen, die familienverträglich ist, zum Beispiel mit entsprechenden Sitzungszeiten.
Bei der Einbürgerung in den Gemeinden scheint eine grosse Willkür zu herrschen. Schafft die neue Einbürgerungsverordnung mehr Fairness?
Die neue Verordnung schafft vor allem beim Sprachtest und bei der Wohnsitzfrist Rechtsgleichheit, diese beträgt neu in allen Gemeinden zwei Jahre. Diesen Weg müssen wir unbedingt weiter beschreiten. Heute entscheidet bei einigen Gemeinden noch die Gemeindeversammlung über die Einbürgerung – für ein Verwaltungsverfahren das falsche Gremium.
Für mich ist die Frage der Einbürgerung in einem Kanton wie Zürich eine sehr zentrale. Wir können nicht gleichzeitig stolz sein auf unsere internationale Ausstrahlung mit Hochschulen und Firmen, die über ein grosses Renommee verfügen – und auf der anderen Seite eine Abschottungspolitik betreiben. Wir benötigen im Gesundheitswesen oder auf dem Bau viel Personal aus dem Ausland, unser Land würde stillstehen ohne diese Menschen. Zu einem offenen Wirtschaftskanton, der von seinem internationalen Ansehen profitiert, gehört auch eine fortschrittliche Einbürgerungspolitik, welche die Menschen einlädt, Schweizer oder Schweizerin zu werden und politisch mitbestimmen zu können.
Eine Möglichkeit zur lokalen politischen Mitbestimmung wäre auch das Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene.
Genau, das befürworte ich vehement. Gemeindeautonomie liegt nämlich nicht nur darin zu entscheiden, welche Steuersoftware man einführen möchte. Die Gemeinden sollen vielmehr selbst bestimmen, ob sie ihre ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger an demokratischen Entscheiden auf kommunaler Ebene beteiligen möchten. Es gibt Gemeinden, die einen solch hohen Anteil an nicht stimmberechtigten Mitgliedern haben, dass man sich fragen muss, ob man da noch von Demokratie sprechen kann.
Die strengen U-Haft-Bedingungen im Kanton Zürich sollen verbessert werden. Im Zentrum der Reform steht das 2-Phasenmodell. Wieso ist es nicht möglich, die Haftbedingungen von Beginn an zu verbessern?
Die Gefahr bei Personen, die sich in U-Haft befinden, liegt darin, dass sie Absprache mit Dritten halten, Beweise vernichten – oder es herrscht eine Wiederholungs- oder Fluchtgefahr. Ganz am Anfang der U-Haft ist die Gefahr der Absprache und der Beweisvernichtung immer gegeben, weshalb am Anfang ein strenges Regime herrschen muss. Die Sicherheit und die Aufklärung des Falls haben dabei Priorität. Fallen diese Gründe weg, kann und soll die Haft gelockert werden. Deshalb habe ich den Auftrag zu dieser Reform gegeben.
Häftlinge sind teilweise 23 Stunden allein in einer Zelle. Es gibt den Vorwurf, dass mit den strengen Bedingungen ein Geständnisdruck erzeugt werden soll.
Die Häftlinge können sich unter der Woche sieben Stunden ausserhalb der Zelle aufhalten, am Wochenende aber tatsächlich nur eine. Wir haben nicht genügend Personal, um hier ein besseres Angebot zu machen. Zudem kämpfen wir mit einer alten Infrastruktur. Das Gefängnis Zürich ist 150 Jahre alt und entspricht nicht mehr dem heutigen Standard. Wir sind sehr froh, wenn das PJZ bezogen werden kann. Dort können die Arbeitsmöglichkeiten verbessert und die Aufenthaltszeiten ausserhalb der Zellen verlängert werden. Klar ist, dass in der U-Haft kein Geständnisdruck erzeugt werden darf. Wird diese rechtsstaatliche Regel verletzt, müssen die Anwälte via Beschwerden intervenieren. Es ist für den Rechtsstaat ein Glück und für die Staatsanwaltschaft eine Herausforderung, dass wir im Kanton Zürich sehr gute Anwältinnen und Anwälte haben. Die Staatsanwaltschaft ist aber nicht nur durch die Strafverteidiger kontrolliert, sondern auch durch die Gerichte. Auch sie achten sehr genau auf die Umstände, unter welchen ein Geständnis zustande kam. Nochmals: Es ist klar, die U-Haft darf nicht dazu dienen, jemanden zu einem Geständnis zu zwingen.
Die Gleichstellung ist ein Thema, das Ihnen am Herz liegt. Die Löhne der Frauen in der Schweiz sind im Vergleich zu Männern noch immer tiefer, in Führungspositionen mangelt es an Frauen. Was muss im Kanton Zürich diesbezüglich noch getan werden?
In Bezug auf die Lohngleichheit braucht es nun griffige Lohnüberprüfungsmassnahmen, wie sie auf nationaler Ebene diskutiert werden. In meiner eigenen Direktion habe ich die erste Lohnüberprüfung innerhalb der kantonalen Verwaltung machen lassen. Solche Erhebungen werden wir in Zukunft regelmässig machen. Bei der Staatsanwaltschaft und teilweise auch im Justizvollzug haben wir festgestellt, dass Männer in höheren Kaderstufen überrepräsentiert sind. Damit einher geht ein strukturelles Lohngefälle. Jüngere Mitarbeitende, und darunter sind überdurchschnittlich viele Frauen, können in der heutigen Zeit nicht mehr von einem automatischen Lohnanstieg profitieren. Ihr Lohn steigt in diesen Jahren deutlich weniger schnell als der Lohn ihrer älteren Kollegen damals stieg. Ein weiteres Problem ist der geringe Frauenanteil auf Kaderstufe. Zu einem guten Arbeitsklima gehört auch Nulltoleranz gegen Diskriminierungen aller Art. Auch beim Vaterschaftsurlaub haben wir Luft gegen oben. Zwei Wochen müssten es mindestens sein. Und dann brauchen wir nach wie vor bessere Kinderbetreuung. Die Kompetenzen dazu liegen bei den Gemeinden: Diese müssen endlich ein Angebot schaffen, das einem modernen Land entspricht.
Werden Sie am Frauenstreik am 14. Juni dabei sein?
Ich freue mich schon sehr auf den 14. Juni: Am Vormittag werden wir eine direktionsinterne Veranstaltung zum Thema Gleichstellung durchführen und Massnahmen festlegen, mit denen wir die Gleichstellung in meiner Direktion weiter verbessern können. Am Nachmittag werde ich dann sicher auch auf dem Helvetiaplatz anzutreffen sein.