Martin Steiger (Bild: Tim Haag)

«Wir leben schon heute in einem Überwachungsstaat»

Nachdem Leon Beyer* nach einer unbewilligten Kundgebung 2022 einen überraschenden Strafbefehl erhält, steht die Stadtpolizei Zürich im Verdacht, verbotene Gesichtserkennungssoftware verwendet zu haben. Martin Steiger, Anwalt für Recht im digitalen Raum und Sprecher der NGO Digitale Gesellschaft, schätzt den Fall im Gespräch mit Tim Haag ein.

Ich war  2022 – selbstverständlich in meiner Tätigkeit als Journalist – an der unbewilligten Demo «Züri nazifrei». Wie hoch ist die Chance, dass das die Polizei weiss?

Martin Steiger: Mit Sicherheit kann man das nicht wissen. Anscheinend hat die Polizei an der Kundgebung gefilmt und fotografiert. Man kann deshalb sagen: Wenn die Polizei herausfinden will, ob Sie an der Kundgebung teilgenommen haben, dann ist sie dazu grundsätzlich in der Lage. 

Wie muss man sich das vorstellen? In welchem Ausmass filmt die Polizei Demonstrant:innen?

Die Polizei hat einen grossen Spielraum, wenn sie Kundgebungen filmen will. Die technischen Möglichkeiten haben sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren rasant weiterentwickelt. Die Polizei fotografiert heute nicht nur gezielt einzelne Personen, sondern kann umfassende Videobilder in hoher Auflösung aufnehmen. Dank der hohen Auflösung kann man die einzelnen Gesichter in der Menschenmenge einer Kundgebung identifizieren. Teilnehmer:innen einer Kundgebung können schon lange nicht mehr darauf hoffen, in der Masse unterzugehen.

Wie tsüri.ch am 27. Juni berichtete, erhielt Leon Beyer* nach seiner Teilnahme an der «Züri-nazi­frei»-Kundgebung von der Polizei einen Strafbefehl – obwohl er vorher noch nie mit der Zürcher Polizei in Kontakt gekommen sei. Die offizielle Erklärung für seine Identifizierung ist, dass ein Polizist Beyers Gesicht – der damals im Hintergrund von tsüri.ch tätig war – im Impressum des Newsportals wiedererkannt habe. Wie plausibel finden Sie diese Erklärung?

Wir können nicht wissen, ob die Erklärung stimmt. Plausibel wirkt die Erklärung nicht. Die Aussage für sich könnte stimmen, ohne dabei die ganze Wahrheit darzustellen: Beyer wurde anhand seines Bildes auf der tsüri-Website erkannt, das kann sein, aber wie ist der Polizist tatsächlich auf die Website gekommen? Und die nächste Frage: Ist es gängiger Teil einer Fahndung, im Internet zu surfen und nach Gesichtern zu suchen, die einem – dank eines fast übermenschlichen Gesichtsgedächtnisses – bekannt vorkommen? Sind in Zürich inzwischen Stadtpolizist:innen mit solchen Fähigkeiten im Einsatz, also sogenannte Super-Recogniser?

Als alternative Erklärung dafür, wie Leon Beyer möglicherweise identifiziert wurde, führt tsüri.ch die Gesichtserkennungssoftware «PimEyes» auf. Wie funktioniert dieses Tool?

Bei PimEyes handelt es sich schlicht um eine gesichterbasierte Personenfahndungsdatenbank. Das Unternehmen mit Sitz im südamerikanischen Kleinstaat Belize grast die Abermillionen zugänglichen Seiten des Internets nach Bildern ab, speichert die gefundenen Bilder ab und erfasst alle Gesichter in diesen Bildern in einer riesigen Datenbank. Sobald Bilder einer Person irgendwo im Internet zu finden sind – beispielsweise auf öffentlichen Social-Media-Profilen oder auf einer Vereinswebsite – kann man davon ausgehen, dass diese Person in der Datenbank erfasst ist. PimEyes hat rund eine Milliarde einzelne Gesichter gespeichert. Wenn ein:e Benutzer:in das Foto eines Gesichtes hochlädt, analysiert der Algorithmus von PimEyes die Gesichtsmerkmale, vergleicht sie mit den Gesichtern in der Datenbank und liefert passende Gesichter. Der Dienst ist laientauglich und liefert sekundenschnelle Ergebnisse.

Und das funktioniert erschreckend gut: Zur Probe habe ich ein frisch geschossenes Bild von mir auf PimEyes hochgeladen, und auch mich hat PimEyes erkannt. Interessanterweise wie bei Beyer durch mein Portraitfoto auf der Website meines Arbeitgebers – in meinem Fall das P.S.

Ich kann mir ohne Weiteres vorstellen, dass im Fall Beyer PimEyes eingesetzt wurde, um ihn zu identifizieren – wenn auch nicht offiziell. Die wohlwollende Version ist, dass ein:e Polizist:in, die/der eigentlich nur das aus ihrer/seiner Sicht Beste bei den Ermittlungen wollte, inoffiziell das Tool benutzt hat. Allenfalls war es für die/den Polizist:in eine günstige Gelegenheit, PimEyes auszuprobieren. Polizist:innen verfolgen solche technischen Neuerungen mit Interesse. Das ist aus meiner Sicht menschlich. Interessant wäre zu wissen, wer – falls PimEyes denn wirklich eingesetzt wurde – davon weiss, und inwiefern es toleriert wird, in welchem Ausmass das Tool eingesetzt wird und so weiter. Vor einigen Jahren wurde bereits öffentlich bekannt, dass ein:e Mitarbeiter:in der Stadtpolizei Zürich mit Clearview AI ein vergleichbares Tool ausprobiert hatte. In jedem Fall interessieren sich Sicherheitsbehörden erklärtermassen für Gesichtserkennung. Das ist naheliegend, denn die Identifizierung von Personen ist ein häufiges Bedürfnis.

Die weniger wohlwollende Version beinhaltet vermutlich das Stichwort «Parallel Construction». Können Sie erklären, was damit gemeint ist?

Bei Ermittlungen geht es vereinfacht darum, von A nach B zu kommen. Die Polizei möchte beispielsweise eine Person auf einem Bild identifizieren. Bei der Parallel Construction wird der eigentliche Weg von A nach B geheim gehalten, zum Beispiel, weil die Methode nicht zulässig oder politisch heikel ist. Wenn man mit der geheimen Methode das Ziel erreicht hat, wird eine alternative Erklärung für den Weg von A nach B geliefert. Eine solche «Parallel Construction» ist im Fall von Leon Beyer eine naheliegende Erklärung.

Und was ist die Folge, wenn sich herausstellt, dass ein:e Polizist:in PimEyes verwendet hat, um Demonstrant:innen zu identifizieren?

Innerhalb der Polizei wäre ich überrascht, wenn ausser internen Disziplinarmassnahmen etwas passieren würde – sofern überhaupt etwas passieren würde. Innerhalb der Polizei ist der Korpsgeist stark. Polizist:innen halten im Guten wie im Schlechten zusammen. Im Fall Beyer wäre das Foto erst einmal ein rechtswidrig erlangter Beweis. In der Schweiz gibt es aber kein absolutes Verbot, einen solchen Beweis zu verwerten. Im Zweifelsfall müsste ein Gericht, letztlich das Bundesgericht, entscheiden, ob die Beweisverwertung im Einzelfall zulässig wäre. 

In anderen Kantonen ist der Einsatz von Gesichtserkennungssoftware bereits erlaubt. Wäre nicht jetzt schon der Moment, um auf politischem Weg zu verhindern, dass für den Einsatz von Pim­Eyes und Co durch Sicherheitsbehörden früher oder später auch in Zürich eine Rechtsgrundlage geschaffen wird?

Politische Bestrebungen gegen Gesichtserkennung gibt es bereits. Die Digitale Gesellschaft unterstützt gemeinsam mit anderen NGOs die Kampagne «Gesichtserkennung stoppen!» und unterstützt die europäische Koalition «Reclaim Your Face». In den Städten Zürich, St. Gallen und Lausanne sowie im Kanton Basel-Stadt haben die Parlamente Vorstösse für ein Verbot der Gesichtserkennung bereits angenommen. Ich finde aber, dass wir viel zu häufig diskutieren, ob Rechtsgrundlagen vorhanden sind oder nicht. Das ist nicht zielführend. Wenn die Sicherheitsbehörden Software einsetzen, müssten sie nach dem Legalitätsprinzip hinstehen und erklären können, auf welcher Rechtsgrundlage der Einsatz erfolgt. Das gilt gerade auch bei Software, die schwerwiegend in die Grundrechte der betroffenen Personen eingreift. Ich werde als Fachperson oft von Medienschaffenden gefragt, ob irgendein Vorgehen einer Sicherheitsbehörde zulässig sei oder nicht. Eigentlich sollte es nicht meine Aufgabe als Bürger oder Rechtsanwalt sein, über die Existenz von Rechtsgrundlagen auf Seite der Sicherheitsbehörden zu spekulieren. Das eigentliche Thema ist die Verhältnismässigkeit: Sind solche Grundrechtseingriffe geeignet oder schiessen sie am Ziel vorbei? Gibt es keine milderen Massnahmen, die geeignet sind? Besteht ein vernünftiges Verhältnis zwischen dem Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen und dem angestrebten Ziel? Strafverfolgung kann bei bestimmten Kundgebungen, bewilligt oder unbewilligt, selbstverständlich erforderlich sein. Die notwendige Diskussion über die eingesetzten Mittel wird aber mangels Transparenz behindert oder gar verhindert.

Zum Beispiel geben Sicherheitsbehörden Informationen – wie auf die Nachfrage von tsüri.ch hin – mit Verweis auf «ermittlungstaktische Gründe» nicht heraus. Dabei ist das Öffentlichkeitsprinzip doch eindeutig: Jede Person hat grundsätzlichen Anspruch darauf, amtliche Dokumente ohne Interessennachweis einzusehen.

Polizeitaktische Gründe, innere Sicherheit und so weiter, das sind beliebte Totschlagargumente, mit denen das Öffentlichkeitsprinzip ausgehebelt wird. Das Argument der Ermittlungstaktik mag für einen beschränkten Zeitraum gelten. Polizeiarbeit kann trivialerweise nicht immer im Licht der Öffentlichkeit stattfinden. Aber das Argument wird pauschal und undifferenziert eingesetzt, um Transparenz zu verhindern. Dabei wäre es mindestens möglich, die Auskunft erst einmal aufzuschieben oder einzuschränken anstatt sie dauerhaft und vollständig zu verweigern. Manchmal ignorieren Behörden im Kanton Zürich sogar Gesuche von interessierten Personen, widersetzen sich so lange wie möglich oder liefern nur nutzlose Informationen. Die öffentliche Diskussion über heikle Themen wird verhindert. Behörden, die so agieren, haben gelernt, dass diese Strategie funktioniert. Das Problem wird im Kanton Zürich dadurch verschärft, dass das Öffentlichkeitsprinzip rechtlich unterentwickelt ist: Es gibt zum Beispiel kein Schlichtungsverfahren, um zwischen Bürger:innen und Behörden zu vermitteln. Man muss deshalb eine unwillige Behörde direkt vor Gericht ziehen. Das ist aufwendig und teuer. Wenn sich die Stadtpolizei Zürich gegenüber tsüri.ch weigert, eine Liste mit verwendeter Software und entsprechende Leitfäden herauszugeben, stellt sich die Frage, wieso sich die Polizei vor solcher Transparenz fürchtet. Bei anderen Einsatzmitteln gibt es keine solche Geheimhaltung, sondern sie werden im Gegenteil stolz der Medienöffentlichkeit präsentiert.

Was müssen wir unternehmen, damit Polizei und Behörden transparenter arbeiten und das Öffentlichkeitsprinzip nicht mehr aushebeln können?

Es genügt nicht, das Thema rechtlich anzugreifen. Alle, denen das Vertrauen in unsere Demokratie wichtig ist, müssen das Thema politisch aufs Tapet bringen. In der Stadt Zürich hat die linksgrüne Mehrheit dafür die Mittel. Wenn man allerdings zynisch sein will, dann ist der Zug schon fast abgefahren: Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem ein Tool, das Sicherheitsbehörden in der Schweiz hinter verschlossenen Türen verbotenerweise eingesetzt hatten, nicht später legalisiert wurde.

Bewegen wir uns auf einen Überwachungsstaat zu?

Wir leben schon heute in einem Überwachungsstaat. Ein Beispiel ist die Vorratsdatenspeicherung: Sämtliche Anbieterinnen von Post-, Telefon- und Internetdiensten in der Schweiz sind verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer Kund:innen zu überwachen und für sechs Monate aufzubewahren. Mit dieser Massenüberwachung werden die Daten der Nutzer:innen – wer wann, wo und mit wem kommuniziert – ohne konkreten Anlass auf Vorrat gespeichert. Wir alle stehen unter Verdacht. Diese Realität lässt sich nicht wegdiskutieren und ist leider auf dem Rechtsweg nur mit viel Aufwand bekämpfen. Die Digitale Gesellschaft hat beim Europäischen Gerichtshof in Strassburg gegen die Vorratsdatenspeicherung Beschwerde erhoben. Dort liegt die Beschwerde inzwischen seit 2019. In der Schweiz hatte das Beschwerdeverfahren bereits 2014 begonnen. Ein anderes Beispiel ist die Kabelaufklärung: Die Internetverbindungen zwischen der Schweiz und dem Ausland werden von Armee und Geheimdienst in der Schweiz nach Stichworten gefiltert. Solche Überwachung betrifft alle Menschen in der Schweiz, hebelt aber auch das Anwalts- und Arbeitsgeheimnis oder den Quellenschutz der Medienschaffenden aus. Dieser ausgewachsene Überwachungsstaat wird Schritt für Schritt weiter ausgebaut.

Mit der Begründung, dass der Ausbau mit grösserer Sicherheit einhergehe.

Die Begründung ist häufig nicht überzeugend. Neue Massnahmen werden nicht auf ihre Wirksamkeit geprüft. Einmal eingeführt, bleiben sie im Einsatz und werden nicht nach fünf Jahren abgeschafft, weil sie nicht oder nicht gut genug funktionieren. Freiheit und Sicherheit ist kein Widerspruch. Wir können und müssen politisch verhandeln, wie wir mit Sicherheit in Freiheit leben können, ohne die Grund- und Menschenrechte zu gefährden. Dafür ist in einem demokratischen Rechtsstaat  Transparenz von Anfang an erforderlich. Ich lasse mich gerne von Sicherheitsbehörden überzeugen, dass sie gewisse wirksame und verhältnismässige Mittel für bestimmte Zwecke brauchen. In jedem Fall müssen Sicherheitsbehörden wie die Stadtpolizei Zürich alle Mittel mit transparenten Rahmenbedingungen und unter wirksamer Aufsicht einsetzen. Davon sind wir noch weit entfernt.

*Name geändert

INFOBOX

Die Digitale Gesellschaft ist ein gemeinnütziger Verein für Bürger- und Konsumentenschutz im digitalen Zeitalter. Er setzt sich seit 2011 als  zivilgesellschaftliche Organisation für eine nachhaltige, demokratische und freie Öffentlichkeit ein. Die Digitale Gesellschaft verteidigt insbesondere die Grundrechte in einer digital vernetzten Welt. 
www.digitale-gesellschaft.ch