«Wir dürfen uns nicht an Gewalt gegen Frauen gewöhnen»

Die Stiftung Frauenhaus Zürich widmet sich anlässlich ihres 40-Jahre-Jubiläums in einem Buch der Geschichte des Frauenhauses. Die Geschäftsführerin der Stiftung, Susan A. Peter, hat in den 1980er-Jahren als Praktikantin im Frauenhaus angefangen, das aus der autonomen feministischen Bewegung entstand. Im Gespräch mit Roxane Steiger beschreibt sie die Verbesserungen und Baustellen in der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.

 

Das erste Frauenhaus in der Deutschschweiz wurde 1979 in Zürich eröffnet. Weshalb braucht es das Frauenhaus nach 40 Jahren noch?
Susan A. Peter: Weil die Gewalt gegen Frauen und Kinder nicht abgenommen hat. Es braucht nach wie vor ein Angebot mit einem hohen Sicherheitsdispositiv und umfassender Unterstützung. Es scheint mir zudem wichtig, dass Institutionen wie das Frauenhaus die Problematik aus einer zivilgesellschaftlichen Perspektive betrachten. Trotz vieler positiver Entwicklungen reichen in der Schweiz die Gesetze und ihre Umsetzung nicht zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt aus. Gemäss Polizei- und Opferhilfestatistiken steigt die Zahl von Betroffenen jährlich.

 

Weshalb kommen Frauen heute ins Frauenhaus? Sind es dieselben Gründe wie vor 40 Jahren?

Das Opferhilfe-Angebot hat sich in den letzten 40 Jahren stark diversifiziert. So hat sich auch das Profil der Klientinnen geändert, die das Frauenhaus aufsuchen. Anfangs gab es ausschliesslich das Frauenhaus in Zürich. Kurz darauf wurde das Nottelefon gegründet. Das Nottelefon war ursprünglich für Frauen gedacht, die von Fremdtätern vergewaltigt wurden, bis man merkte, dass die Betroffenheit im familiären oder im partnerschaftlichen Rahmen viel grösser ist. Heute gibt es Beratungsstellen für verschiedene Formen von Gewalt. Seitdem das Gewaltschutzgesetz des Kantons Zürich 2007 in Kraft getreten ist, verfügt die Polizei mit dem Kontakt- oder Rayonverbot über neue Befugnisse. Nicht mehr jede Frau braucht den Schutz des Frauenhauses, wenn der Mann inhaftiert oder mit einem Kontaktverbot belegt ist. Sie können sich jedoch bei Beratungsstellen ambulant und kostenlos beraten lassen. Bei Frauen, wo der Täter flüchtig ist, und sogenannten Hochrisikofällen, wo es nicht reicht, den Schutz durch die Inhaftierung des Mannes zu gewährleisten, ist das Frauenhaus ein wichtiges ergänzendes Angebot. Hinzu kommen Frauen, die umfassende Unterstützung brauchen, weil sie und ihre Kinder sehr stark von der Gewalt gezeichnet sind.
Was hat sich mit Corona verändert? Ich habe den Eindruck, dass das Thema in der Pandemie sehr viel mediale Aufmerksamkeit erhalten hat.
Die Frauenhäuser haben seit ihren Anfängen grosse Unterstützung erlebt. Viele Menschen wussten schon damals aus unterschiedlichen Gründen um das Thema Bescheid. Ich glaube, während Corona ist das Vorstellungsvermögen dafür nochmals gestiegen, was es heisst, wenn man während einer Konfliktsituation im Lockdown eingesperrt ist. Zudem hilft es vielen Menschen psychisch, sich in Ohnmachtssituationen wie einer Pandemie mit Menschen zu solidarisieren, die sich in einer noch schlimmeren Situation befinden.

 

Wie schwierig ist es, zu genügend Ressourcen, also Geld, Mitarbeiterinnen und Freiwilligen, zu kommen? Was hat sich im Vergleich zu früher verändert?

In vielen Frauenhäusern arbeiten wir bewusst nicht mit Freiwilligen. Wir sind der Meinung, dass die Unterstützung und Begleitung von gewaltbetroffenen Frauen eine Aufgabe ist, für die der Staat mehr Verantwortung übernehmen sollte. In den 1980er-Jahren ging es um die Frage, wie wir das Frauenhaus finanzieren. Es wurde viel Gratisarbeit geleistet. Für uns war aber immer eine Professionalisierung im Vordergrund. Ich glaube, die Istanbul-Konvention hat durch das Bekenntnis, dass der Staat für den Schutz und die Unterstützung von Betroffenen verantwortlich ist, einen Ruck in die Schweiz gebracht. Die Umsetzung der Istanbul-Konvention liegt bei den Kantonen. Diese sind nicht alle gleich gut aufgestellt. Vom Kanton Zürich erfahren wir eine grosse Unterstützung. Bezüglich Finanzierung werden einerseits die zwölf Zimmer, die die Stiftung anbietet, subventioniert. Das sind rund 25 Prozent unserer Einnahmen. Andererseits wird der Aufenthalt von Frauen und Kindern in den ersten 35 Tagen von der Kantonalen Opferhilfe finanziert. Diese öffentlichen Gelder stellen die Haupteinnahmequelle der Stiftung dar. Den Rest muss ich über das Fundraising einholen.

 

Sie haben als Praktikantin beim Frauenhaus Zürich angefangen, das aus der autonomen feministischen Bewegung entstand. In den 2000er-Jahren waren Sie stark an der Reorganisation des Zürcher Frauenhauses beteiligt. Was ist in dieser Zeit geschehen, und wie hat sich das auf das Frauenhaus ausgewirkt?

Ich bin 1984 als Studentin zum Frauenhaus dazugestossen und hatte keine Ahnung vom Thema. Das Frauenhaus hat mich inte­ressiert, da es für Frauen war. Zu dieser Zeit war ich bereits in der feministischen Szene aktiv. Durch den Arbeitseinstieg beim Frauenhaus wurde ich weiter sensibilisiert und politisiert. Im Verlauf der Jahre habe ich dann einen Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozess des Frauenhauses miterlebt. Da frau gemerkt hatte, dass es ausser den aktivistischen Bewegungen zusätzliche Unterstützung aus anderen Kreisen braucht, hat der Trägerverein 1980 eine Stiftung gegründet. Im Verlauf der jahrelangen Entwicklungen tauchten dann Differenzen zwischen dem Verein und der Stiftung auf. Im Verein wurden viele Projekte lanciert, was Geld und Ressourcen kostete. Die Stiftung verantwortete das Geld. In den 2000er-Jahren kam es schliesslich zu einem starken Burnout innerhalb des Teams im Frauenhaus, sodass dieses vorübergehend geschlossen werden musste. Die Qualität der Betreuung für die betroffenen Frauen und Kinder war unter diesen Umständen nicht mehr gewährleistet. Für einen Neustart musste die strukturelle Ebene zwischen Verein und Stiftung geklärt und reorganisiert werden. So wurde die Trägerschaft des Vereins an die Stiftung übertragen. Die Ideologie und das Geld waren nicht mehr gespalten und mussten am gleichen Ort ausgehandelt werden. Somit wurden auch die strategische und die operative Ebene getrennt und die Verantwortlichkeiten besser geklärt. In dieser Krise wurde die Stiftung angefragt, ob wir ein zweites Frauenhaus, die Wohngemeinschaft Violetta, die die Stadt 1996 gegründet hatte, in Betrieb nehmen wollten. Das war nochmals ein Grund, um eine operative Geschäftsleitung einzusetzen. Dies war auch ein Abschied vom Leitungsteam hin zu Arbeitsteilung und damit auch Hierarchien. Ich finde, dass diese Unterscheidung von Verantwortlichkeiten in diesem Kontext durchaus sinnvoll war und es immer noch ist. Die Anforderungen an die Arbeit im Frauenhaus und das Arbeitsvolumen sind stark gestiegen.

 

Heute sind Feminizide, häusliche und sexuelle Gewalt grosse Anliegen der feministischen Bewegung. Wie nehmen Sie die heutige feministische Bewegung und ihre Anliegen wahr?

Ich nehme sie primär als grosses Geschenk wahr. In den 2000er-Jahren war es viel ruhiger um das Thema Gewalt an Frauen. Dabei dürfen wir uns nicht an Gewalt an Frauen gewöhnen. Der Zusammenschluss von Bewegungen befruchtet sich gegenseitig, hin zu keiner Ausbeutung, weder von Natur noch von Menschen. Dahinter stehen gemeinsame Analysen, die unterschiedliche Erfahrungen betreffen. Diese Erfahrungen und Perspektiven bewirken, dass ich bei Themen, die mir vor Jahren nicht so präsent waren, heute bewusster hinschaue. Und es führt auch dazu, dass wir als Frauenhaus unsere 40-jährige Institution immer wieder mal auch kritisch hinterfragen. Von jüngeren Aktivistinnen werden auch kritische neue Angebote geschaffen, die noch nicht abgedeckt sind.

 

Wird in der Schweiz genug getan, um die Istanbul-Konvention zum Schutz von gewaltbetroffenen Frauen umzusetzen?

Leider gibt es in der Schweiz noch keine gesamtschweizerische Strategie gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Gemeinsam mit Bund und Kantonen müssten alle AkteurInnen zusammensitzen und definieren, wie die Prävention, die Intervention und die Bekämpfung von Gewalt an Frauen erfolgen müssen. Zudem gibt es in der Schweiz weiterhin zu wenig Plätze in den Frauenhäusern und Schutzunterkünften. Gemäss EU müsste die Schweiz 850 Plätze anbieten, aktuell sind es etwas mehr als die Hälfte. Das hat mit den jeweiligen Finanzierungsmodellen der Kantone zu tun. Das andere Problem ist, dass längst nicht alle Frauen, die von Gewalt betroffen sind, im Frauenhaus oder bei der Polizei Hilfe suchen. Die Hürden dafür sind nach wie vor sehr gross.

 

2015 haben Sie ein Nachbetreuungsangebot lanciert, welches Frauen und ihre Kinder nach dem Aufenthalt im Frauenhaus unterstützen soll. Was ist dabei genau vorgesehen?

Es ist herausfordernd, das von Gewalt geprägte Leben innert 35 Tagen neu zu organisieren. Neben der psychischen und körperlichen Verletzung müssen die Frauen sehr viel klären und entscheiden: von Strafanzeige, Trennung oder Scheidung bis hin zu Sorgerechtsregelung. Frauen, die lange in einer Gewaltspirale gefangen waren, brauchen oftmals eine längere Begleitung, damit sie wieder auf eigenen Beinen stehen können. Darum hat die Stiftung das Nachbetreuungsangebot mit zwei stationären Wohnungen aufgebaut, in denen die Frauen ambulant begleitet werden. Allerdings werden Migrantinnen seit der Verschärfung des AusländerInnengesetzes 2019 abgeschreckt, dieses kostenpflichtige Angebot in Anspruch zu nehmen, da die bezogenen Sozialhilfegelder deren Aufenthaltsbewilligung gefährden. Die finanzielle Unterscheidung zwischen Opferhilfe und Sozialhilfe ist nicht zielführend und entspricht nicht der Istanbul-Konvention. Deshalb sind die Stiftung und der Kanton im Gespräch, um dafür eine adäquate Lösung zu finden.

 

Erwarten uns weitere Projekte der Stiftung Frauenhaus?

Die Geschichtsschreibung im Buch «Wann, wenn nicht jetzt» von Christina Caprez, das von der Stiftung Frauenhaus Zürich herausgegeben wird, war ein grosses Projekt. Ich wollte, dass die 40-jährige Geschichte auch für andere interessierte Menschen zugänglich ist. Was weiter folgt, ist noch offen.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich verabschiede mich nächstes Jahr von der Stiftung, da ich pensioniert werde. Ich hoffe, dass wir die Nachbetreuungsangebote auf eine solide finanzielle Basis stellen können, damit auch Migrantinnen dieses Angebot ohne Schwellen nutzen können. Längerfristig wünsche ich mir, dass das Thema noch viel mehr in die Politik fliesst und dort ein grösseres Bewusstsein für die Unterstützungsmassnahmen sowie die erforderliche Präventionsarbeit entsteht. So müsste das Thema auch in allen Berufsausbildungen der sozialen oder pädagogischen Arbeit ein Schwerpunktthema sein, da viele Menschen damit konfrontiert sein werden. Es bräuchte zudem kontinuierliche Öffentlichkeits- und Präventionsarbeit, damit das Problem benannt wird und dabei auch gelernt und gelehrt wird, darüber zu sprechen. So gibt es für AutofahrerInnen jährlich bei Schulstart präventive Sensibilisierungskampagnen. In den Schulen sollten der gewaltfreie Umgang miteinander und gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zentrale Themen sein. Die grosse Vision ist doch, dass es keine Frauenhäuser mehr braucht, weil wir Menschen im Kleinen und Grossen, zu Hause und auf der ganzen Welt keine Kriege mehr führen wollen.

 

Das erwähnte Buch, herausgegeben von der Stiftung Frauenhaus Zürich, ist am 3. März erschienen:
Christina Caprez: Wann, wenn nicht jetzt. Das Frauenhaus in Zürich. Limmat Verlag 2022, 304 Seiten, 36 Franken.

 

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